Eine ganz andere Geschichte
weiß«, sagte Carina Morelius und senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Aber ich kenne ihn. Wir hatten nämlich vor ein paar Jahren sogar mal eine Beziehung.«
»Was sagst du da …?« Barbarotti blieb verblüfft stehen.
»Nun ja, es waren nur ein paar Wochen. Beziehung ist wohl auch das falsche Wort. Affäre wäre besser, wir hatten eine Affäre. «
»Aber er ist doch mindestens fünfzehn Jahre älter als du?«
»Dreizehn«, sagte Morelius. »Aber es lag nicht am Alter.«
»Dann meinst du also … dass er an diese Reise gewisse Erwartungen geknüpft hat?«
»Das ist deine Interpretation«, sagte Morelius und schlüpfte in ihr Zimmer.
Es gibt doch vieles, was man nicht weiß, dachte Inspektor Barbarotti. Sehr viel.
»Jedes Jahr werden in diesem Land zirka sechzigtausend Menschen als vermisst gemeldet«, erklärte Commissaire Leblanc. »Six-zero-zero-zero-zero.«
Barbarotti schrieb es sich auf.
»Das ist natürlich eine unglaublich hohe Zahl, aber es ist nur ein Promille der Bevölkerung. Die meisten verschwinden nicht. Einfach ausgedrückt könnte man sagen, dass jeder tausendste Mensch verschwindet. Wenn wir auf dem statistischen Weg weitermachen, dann bedeutet das, dass wir jeden Monat rund fünftausend Verschwundene haben.«
»Laut Statistik haben wir in unserem Land auch einen ziemlichen Batzen«, wies Tallin ihn hin. »Ich habe vor gar nicht langer Zeit einen Artikel darüber gelesen, und da wurde behauptet, dass wir mit der Pro-Kopf-Ziffer so ziemlich auf einer Höhe mit den meisten Ländern in Westeuropa liegen.«
»Das mag wohl stimmen«, bestätigte Leblanc. »Aber wir dürfen nicht vergessen, dass nur ein Bruchteil der fünftausend monatlich Verschwundenen ein Jahr später noch verschwunden ist. Rund fünfzehn Prozent genau genommen. Die Leute tauchen wieder auf, kehren nach Hause zurück oder werden tot aufgefunden. Ein Verbrechen liegt bei weniger als zehn Prozent der Fälle zu Grunde, und die Ziffer derer, die nach fünf Jahren immer noch verschwunden sind, ist ungefähr genauso hoch – knapp zehn Prozent. Was ich damit sagen will: ungefähr sechstausend Personen lösen sich jedes Jahr in Luft auf. Man nimmt an, dass ungefähr die Hälfte von ihnen tot ist, und von den restlichen dreitausend befinden sich sicher nicht mehr als ein paar Hundert innerhalb der Landesgrenzen. Leute fliehen, ganz einfach, und das tun sie aus den verschiedensten Gründen. Unbezahlte Steuern ist wohl einer der üblichsten.«
Barbarotti blätterte seinen Block um und beschloss, sich keine weiteren Notizen zu machen. »Wie viele sind im Juli 2002 verschwunden?«, fragte er.
»Das wollte ich jetzt berichten«, sagte Leblanc mit einem hastigen Lächeln. »Entschuldigt diese Ziffernübung, aber ich wollte euch einen gewissen Hintergrund geben.«
»Ausgezeichnet«, sagte Tallin.
»Nach allem, was ich verstanden habe, sollen das Mädchen und ihre Großmutter Anfang Juli den Tod gefunden haben, ich habe mir sicherheitshalber die zwei Monate zwischen dem 5. Juli und dem 4. September des Jahres angeschaut, da hatten die Schulen an den meisten Orten wieder angefangen, und während dieses Zeitabschnitts sind 12.682 Suchmeldungen wegen vermisster Personen eingegangen – im ganzen Land. Eine statistische Normalziffer also, im Sommer verschwinden immer mehr Menschen, aber in dem Jahr war es offenbar nur marginal.«
Er machte eine kurze Pause, während der er seine Brille putzte und seine Papiere konsultierte.
»Von diesen Menschen sind bis zum heutigen Datum eintausendfünfunddreißig nicht gefunden worden.«
»Das heißt, immer noch verschwunden?«, fragte Barbarotti.
»Genau«, bestätigte Leblanc. »Und von diesen gut tausend sind nicht zwei von der gleichen Person als vermisst gemeldet worden.«
»Einen Moment«, sagte Barbarotti. »Sie sagen also, dass niemand das Mädchen und die Großmutter gemeldet haben kann, die ja gleichzeitig verschwunden sind?«
»Richtig«, sagte Leblanc.
»Was ganz einfach bedeutet, dass niemand sie überhaupt als vermisst gemeldet hat? Warum sollten zwei verschiedene Personen melden, dass sie verschwunden sind?«
»Es klingt ja ziemlich wahrscheinlich, dass die gleiche Person sie meldet, wenn es sich nun einmal um eine Großmutter und ihre Enkelin handelt«, stimmte Leblanc zu und zog ein neues Stück Papier hervor. »Aber wenn wir trotzdem einmal mit dem Gedanken spielen, dass wir es mit zwei separaten Suchmeldungen zu tun haben, und wenn wir sehr großzügig sind,
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