Eine geheimnisvolle Lady
seiner Jugend erworben – als er eifrig bestrebt gewesen war, England zu entfliehen. Nach der Heimkehr hatte er erkannt, dass kein exotisches Ambiente seine essenzielle Einsamkeit mildern konnte. Die weiten Reisen hatten diese traurige Tatsache nur bestätigt.
»Also gut, vergessen wir die fauligen Kadaver«, entschied seine Tante in einem Ton, der Leder zerfetzen würde. »Hier muss es irgendwo heidnische Juwelen geben.«
»Wie wäre es mit den Elgin Marbles?«, schlug Charlotte in plötzlichem Eifer vor und nieste wieder. Während Ashcroft ein weiteres sardonisches Gelächter bezwang, errötete seine Tante. »Auf keinen Fall, Charlotte Jane Alice Goudge!«
Nur zu gern hätte Charlotte die nackten Figuren auf dem Marmorfries gesehen, den Lord Elgin aus Griechenland mitgebracht hatte. Enttäuscht seufzte sie und fügte sich gehorsam in ihr gewohntes Schicksal. »Ja, Mama.«
Die beiden Frauen wanderten weiter, und Tante Mary beschimpfte ihre unglückliche Tochter immer noch. Ashcroft blieb zurück, als sie den nächsten Raum betraten. Seine männlichen Verwandten besuchten einen Ringkampf in Kent. So langweilig die maskuline Hälfte seiner Familie auch sein mochte, nun bereute er, dass er sie nicht begleitet und stattdessen mit seiner Tante und seiner Cousine das Museum aufgesucht hatte.
Zum tausendsten Mal sagte er sich, er müsste den Kontakt zu den Vales abbrechen. Nur Blutsauger. Oder Marionetten wie Charlotte. Keiner von ihnen wäre auf einen grünen Zweig gekommen, hätte er nicht die Kontrolle über die Familienfinanzen übernommen, sobald er großjährig geworden war. Damals hatte er den chaotischen Zustand des Ashcroft-Vermögens entdeckt. Dafür war sein Onkel verantwortlich gewesen, der Vormund des Erben und Verwalter der Landgüter.
Immer wieder hatte Ashcroft erwogen, seinen unsympathischen Verwandten den Rücken zu kehren. Darauf verzichtete er keineswegs aus Zuneigung. In seiner Kindheit hatten sie ihn als Belastung empfunden – aber eine Menge Geld aus seinen Landgütern herausgepresst, um sich über Wasser zu halten. Jetzt grollten sie ihm, weil seine Börse zumeist verschlossen blieb. Auf diese Weise verhinderte er die schlimmsten Exzesse der Familie.
Könnte er doch bloß das irritierende, aber hartnäckige Pflichtgefühl abschütteln.
Er blieb stehen, um die in Basalt gemeißelte Figur eines Würdenträgers aus der Ersten Dynastie zu bewundern, und verdrängte den Ärger über seine Familie. Sofort kehrten seine Gedanken zu Diana zurück. Wie sollte er sie finden? Er versuchte sich auf das schöne Kunstwerk zu konzentrieren, die monumentale Ausstrahlung, das Genie des Bildhauers, der den Charakter der dargestellten Person so eindrucksvoll eingefangen hatte. So wie immer, seit Diana davongelaufen war – nein, seit er ihr zum ersten Mal begegnet war –, konnte nichts anderes seine Aufmerksamkeit fesseln. Ständig und überall erschien ihr Gesicht in seiner Fantasie.
Aus den Augenwinkeln sah er zwei modisch gekleidete Frauen in den Raum schlendern. Zunächst beachtete er sie kaum, dann weckte die eine sein Interesse, und er hielt den Atem an.
In der Luft knisterte irgendetwas Undefinierbares. Er wandte sich von der Statue ab und musterte die Damen etwas genauer. Plötzlich begann sein Puls zu rasen.
Verlor er den Verstand? Sah er Diana jetzt schon überall?
Neben einer Mumie blieben die beiden stehen und kehrten ihm den Rücken zu. Sie trugen Hüte, die ihre Haare verbargen. In seinen Ohren war ihr leises Gemurmel ein melodisches Summen. Nichts unterschied diese Damen von tausend anderen. Die Gestalt rechts ignorierte er sofort, eindeutig eine Fremde. Doch die andere – größer, über den Glaskasten geneigt –, ja, sie kam ihm bekannt vor.
War es möglich?
Sein Herz pochte wie rasend, und er ballte die Hände. Verdammt, er konnte nicht sicher sein, dass es Diana war. Doch seine Seele wusste es.
Dreh dich zu mir um.
Als hätte er die Worte laut ausgesprochen, richtete sie sich auf. Aber sie starrte immer noch die Mumie an.
Dreh dich zu mir um.
Langsam, fast widerstrebend, wie von einer unwiderstehlichen Macht gezwungen, wandte sie sich zu ihm.
Diana …
Er sah graue Augen, die sich weiteten und verdunkelten und die Farbe eines stürmischen Himmels annahmen, sah den rosigen Hauch aus ihren Wangen weichen, die geöffneten Lippen, die in atemloser Spannung einen Kuss zu erwarten schienen.
Schmerzhaft verengte sich seine Brust, und er trat einen Schritt vor, ehe ihm bewusst
Weitere Kostenlose Bücher