Eine geheimnisvolle Lady
wurde, dass dies weder die rechte Zeit noch der passende Ort war, um sie festzuhalten.
»Wo bleibst du denn, Tarquin?« Die schrille Stimme seiner Tante stammte aus einer anderen Welt. Als würde er aus einem Traum erwachen, riss er seinen Blick von Diana los und richtete ihn auf seine korpulente Tante, die in der Tür zum Nebenraum stand. »Tarquin!«, rief sie ungeduldig. »Charlotte möchte bei Gunter’s Eis essen. Hier gibt es nichts Interessantes.«
In Dianas Miene las er flüchtige Belustigung, die den anfänglichen Schock verdrängte, und er lächelte ihr zu. Typisch für Mary Goudge, die jahrtausende alten Schätze zu verachten!
Endlich funktionierte sein Gehirn wieder, und er redete sich ein, diese Erstarrung bei Dianas Anblick sei ganz natürlich gewesen. Aber seine gesteigerte Wahrnehmung von Farben und Licht konnte nur eins bedeuten – in den letzten paar Sekunden hatte sich die Welt auf wunderbare Weise verwandelt. Denn er hatte sie gefunden.
In seiner gewohnten arroganten Haltung, die ihm noch Sekunden zuvor unmöglich gewesen wäre, schlenderte er zu der Frau, die seit ihrem Verschwinden seine Gedanken beherrschte, nahm seinen Hut ab und verneigte sich. »Ich möchte dich mit meiner Tante bekannt machen«, erklärte er leise.
Die Begleiterin an ihrer Seite, der er kaum einen Blick gönnte, keuchte erschrocken auf und wich zurück. Ashcroft hatte nur Augen für die hochgewachsene Gestalt in einem eleganten dunkelblauen Ensemble. Jetzt, wo sie keinen Schleier trug, müsste sie weniger mysteriös wirken. Aber die Widersprüche erschienen ihm noch markanter. Eine klar gezeichnete Knochenstruktur, Charakter- und Willensstärke in einem ausdrucksvollen Kinn und einer geraden Nase. Ein Mund, der ein sinnliches Paradies versprach, und Augen, die zugleich kapitulierten und Widerstand leisteten. Wie eh und je ein Rätsel.
Zitternd trat sie vom Glaskasten zurück. »Sei nicht absurd, Ashcroft«, wisperte sie. »Ich bin … deine Geliebte.« Das letzte Wort sprach sie so leise aus, dass er sich zu ihr neigen musste, um es zu verstehen. Da roch er den unvergesslichen Duft – süß und erotisch. Grüne Äpfel. Diana. Für einen verbotenen Moment sog er das berauschende Aroma tief in seine Lungen. »Wie ist dein Nachname?«
»Was machst du denn, Tarquin?«, schrie Tante Mary von der Tür her. »Hast du mich nicht gehört?«
»Dein Nachname?«, wiederholte er leise.
»Das kannst du nicht machen, ich erlaube es nicht«, flüsterte sie mit verkniffenen Lippen. Die Verletzlichkeit in ihrer Miene verflog, und er erkannte die vertraute Herausforderung wieder. Sein Lächeln vertiefte sich. Oh, er liebte es, wie sie sich gegen ihn behauptete.
»Wie willst du mich daran hindern? Verrate mir deinen Nachnamen.«
Ihre Augen verengten sich. »Und wenn ich lüge?«
»Dann lügst du eben.« Er griff nach ihrem schlanken Arm. Trotz der unschuldigen Berührung beschleunigte sich sein Puls, als er sie zu seiner Tante zog. Er nahm an, sie würde sich wehren, obwohl sie wissen musste, dass er notfalls seine überlegene Körperkraft nutzen würde. Zu seiner Überraschung folgte sie ihm kampflos. Aber unter seinen Fingern spürte er ihren bebenden Zorn. Über seine Schulter schaute er zu ihrer Begleiterin zurück, die am anderen Ende des Raums stand und die Ereignisse sichtlich interessiert verfolgte.
»Carrick«, fauchte Diana.
Carrick.
Nie wieder würde sie ihm so leicht entkommen. Er akzeptierte diesen Namen als ihren richtigen, wenn er auch nicht wusste, warum. Vielleicht, weil sie die beiden Silben so vehement hervorgestoßen hatte. Oder weil sie ihn zu einem inakzeptablen Verhalten provozieren wollte. In seine Begierde, die ihn seit der Trennung verfolgte, mischte sich triumphale Genugtuung.
Fünf Tage lang hatte er sich elend gefühlt, insbesondere, weil er sich weigerte, sein Herz zu erforschen und sich einzugestehen, wie schmerzlich Dianas Flucht ihn getroffen hatte. Jetzt empfand er reine Freude. Zum ersten Mal, seit sie ihn verlassen hatte, glaubte er wieder zu leben .
»Tante Mary, erlaube mir, dich mit einer Dame bekannt zu machen. Mrs. Carrick.« Er wandte sich zu Diana, die seinem Blick geflissentlich auswich. »Mrs. Carrick, darf ich Ihnen meine Tante vorstellen, Lady Birchgrove.«
»Mrs. Carrick«, sagte die Countess, ohne auch nur eine Spur von Begeisterung zu zeigen, und nickte Diana zu.
»Eure Ladyschaft.« Höflich nickte Diana, wie es die Etikette diktierte, und wartete ab, ob die Countess den
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