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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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königliche Familie gegen das Volk begangen hätten. Aus den paar Worten, die Charles Darnay von der Rede des Mannes verstand, erfuhr er zum ersten Mal, daß der König gefangensaß und die auswärtigen Gesandten samt und sonders Paris verlassen hatten. Auf dem ganzen Herweg hatte er, mit Ausnahme von Beauvais, rein nichts von dem Stand der Angelegenheiten erfahren. Durch die Bedeckung und die allgemeine Wachsamkeit war er völlig isoliert worden.
    Natürlich wußte er jetzt, daß ihm weit größere Gefahren drohten, als er bei seiner Abreise aus England geahnt hatte; sie umringten ihn bereits dicht genug und wurden voraussichtlich schwerer und noch schwerer. Er mußte sich eingestehen, daß er die Reise wohl unterlassen haben würde, wenn er die Ereignisse einige Tage hätte voraussehen können. Und doch waren seine Besorgnisse nicht so düster, wie sie wohl der Phantasie hätten erscheinen können. Obschon er sich sorgte wegen der Zukunft, so war diese doch nur ein unbekanntes Etwas, in dessen dunklem Schoß die Hoffnung der Unwissenheit lag. Von dem schrecklichen, Tag und Nacht fortdauernden Töten, das innerhalb weniger Umläufe der Uhr der gesegneten Zeit der Herbsternte einen großen blutigen Stempel aufdrücken sollte, hatte er so wenig eine Ahnung, als sei er durch Jahrtausende davon getrennt. Das ›scharfe neugeborene Frauenzim
mer, La Guillotine genannt‹, kannten er und das Volk im allgemeinen kaum dem Namen nach, und die schrecklichen Taten, die bald durch sie geschehen sollten, schlummerten damals wahrscheinlich noch unbewußt in dem Gehirn derer, die sie ausführen sollten. Wie hätten sie einen Platz finden sollen in den unbestimmten Vorstellungen eines sanften Gemüts?
    Das Unrecht, das man an ihm übte, wenn man ihn in harter Gefangenschaft hielt und ihn grausam von Weib und Kind trennte, konnte wohl lange währen; aber darüber hinaus fürchtete er nichts Bestimmtes. Allerdings war auch ein solcher Gedanke schon traurig genug, und unter diesem Eindruck langte er in dem Gefängnis La Force an.
    Ein Mann mit einem verbissenen Gesicht öffnete die feste Pforte. Defarge stellte ihm den ›Emigranten Evrémonde‹ vor.
    »Zum Teufel! Wieviel kommen denn noch?« rief der Mann mit dem verbissenen Gesicht.
    Defarge nahm den Empfangsschein entgegen, ohne auf den Ausruf zu achten, und entfernte sich mit seinen beiden patriotischen Begleitern.
    »Zum Teufel, sag ich wieder«, bemerkte der Kerkermeister, sobald er mit seinem Weib allein war, »nimmt's noch kein Ende?«
    Die Frau Kerkermeisterin, die auf diese Frage mit keiner Antwort gerüstet war, entgegnete nur: »Man muß Geduld haben, mein Lieber.«
    Drei Schließer, die auf ein Klingelzeichen eintraten, waren derselben Meinung, und einer davon fügte hinzu: »Um der Freiheit willen!« – ein Ausdruck, der an einem solchen Orte gar nicht am Platz zu sein schien.
    La Force war ein unheimliches Gefängnis, dunkel, schmutzig und erfüllt von dem abscheulichen Geruch ungesunden Schlafs. Es ist erstaunlich, wie bald der widerliche Geruch des
Schlafs von Gefangenen in Räumen sich bemerkbar macht, die nicht saubergehalten werden.
    »Auch in Einzelhaft«, brummte der Kerkermeister, das Blatt Papier betrachtend. »Als ob es da nicht schon voll wäre zum Platzen.«
    Er steckte übellaunig das Papier an einen Drahtstift, und Charles Darnay wartete eine halbe Stunde, was man weiter mit ihm anfangen würde, wobei er bald in dem hochgewölbten Raume auf und ab ging, bald auf einem steinernen Sitz ausruhte. Diese ganze Zeit über war er ein Gegenstand des Studiums für den Kerkermeister und seine Untergebenen, die seine Person ihrem Gedächtnis einprägen wollten.
    »Kommt«, sagte endlich der Kerkermeister, indem er seine Schlüssel aufnahm; »kommt mit mir, Emigrant!«
    Sein neuer Pflegling begleitete ihn über Flur und Treppe durch die unheimliche Gefängnisdämmerung, und viele Türen schlugen hinter ihnen zu und wurden abgeschlossen, bis sie ein großes, niedriges, gewölbtes Gelaß erreichten, das von Gefangenen beiderlei Geschlechts wimmelte. Die Frauen saßen lesend und schreibend, strickend, nähend und stickend an einem großen Tisch, und die Männer standen meist hinter ihren Stühlen oder schlenderten in dem Raume auf und ab.
    In dem naiven Gefühl, das mit Gefangenen nur schwere Verbrechen oder Vergehen in Verbindung bringt, schrak der neue Ankömmling vor dieser Gesellschaft zurück. Aber das befremdlichste Erlebnis seiner langen, ihm nur wie ein Traum

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