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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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vorkommenden Reise war, daß sie alle sich erhoben, um ihn mit der ganz feinen Sitte der damaligen Zeit, mit der vollen gewinnenden Anmut und Höflichkeit des Lebens zu empfangen.
    So sonderbar widersprach der düstere Zustand des Kerkers dieser Geste der höfischen Welt, so gespenstisch nahm sie sich
aus, da Schmutz und Elend sie umgaben, daß Charles Darnay in einer Gesellschaft von Toten zu stehen meinte. Lauter Gespenster! Das Gespenst der Schönheit, das Gespenst der Stattlichkeit, das Gespenst der Eleganz, das Gespenst des Stolzes, das Gespenst der Leichtfertigkeit, das Gespenst des Witzes, das Gespenst der Jugend, das Gespenst des Alters, alle harrten ihrer Erlösung von dem öden Gestade – alle wandten ihm Blicke zu, verändert durch den Tod, den sie gestorben waren, als sie hierherkamen.
    Er blieb regungslos stehen. Der Kerkermeister hielt sich an seiner Seite, und die Schließer gingen umher. Sie wären vielleicht in ihren gewöhnlichen dienstlichen Verrichtungen leidlich genug gewesen, im Gegensatz aber zu den anwesenden traurigen Müttern und blühenden Töchtern, zu den Bildern der Gefallsucht, der jugendlichen Schönheit und matronenhaften Würde nahmen sie sich so ungeschliffen aus, daß das Widerspiel aller bisherigen Erfahrung und Wahrscheinlichkeit, das die Szene darbot, auf den höchsten Höhepunkt getrieben zu sein schien. Sicherlich lauter Gespenster! Sicherlich hatte der lange Traum von der Reise, ein krankhaftes Phantasiegebilde, ihn unter diese nächtigen Schatten geführt!
    »Im Namen der versammelten Unglücksgefährten«, sagte ein Herr von höflichem Aussehen und Benehmen, der auf ihn zukam, »gebe ich mir die Ehre, Euch in La Force zu bewillkommnen und Euch unser Bedauern auszudrücken wegen des Unsterns, der Euch unter uns geführt hat. Möge es sich bald zum Bessern wenden. An jedem anderen Orte wäre es eine Ungebühr, aber hier darf ich Euch wohl nach Eurem Namen und Stand fragen?«
    Charles Darnay raffte sich auf und gab die gewünschte Auskunft so gut, wie es eben gehen mochte.
    »Ich will nicht hoffen«, sagte der Herr, dem Kerkermeister,
der im Zimmer umherging, mit den Augen folgend, »daß Ihr in Einzelhaft kommt.«
    »Ich habe dieses Wort allerdings gebrauchen hören.«
    »Ah, das ist schade! Wir bedauern es recht sehr! Doch fasset Mut; mehrere aus unserer Gesellschaft sind anfangs in Einzelhaft gewesen, aber es hat nur kurze Zeit gewährt.« Dann sagte er mit erhobener Stimme: »Es tut mir leid, der Gesellschaft mitteilen zu müssen – in Einzelhaft.«
    Ein Gemurmel des Bedauerns folgte Charles Darnay, als dieser zu einer vergitterten Tür hin ging, wo der Kerkermeister ihn erwartete, und viele Stimmen, unter denen die weichen und mitleidigen der Frauen besonders bemerkbar wurden, sandten ihm gute Wünsche und Worte der Ermutigung nach. An der vergitterten Tür wandte er sich um und sprach seinen herzlichen Dank aus; dann schloß sich der Riegel hinter ihm, und die gespenstischen Gestalten entschwanden seinen Blicken für immer.
    Hinter der Tür befand sich eine aufwärts führende Steintreppe. Nachdem sie vierzig Stufen zurückgelegt (der Gefangene hatte sie gezählt), öffnete der Kerkermeister eine niedrige schwarze Tür, und sie gelangten in eine Einzelzelle. Es war kalt und feucht darin, aber nicht dunkel.
    »Die Eurige«, sagte der Kerkermeister.
    »Warum werde ich allein eingesperrt?«
    »Wie kann ich das wissen?«
    »Darf ich mir Feder, Tinte und Papier kaufen?«
    »Davon steht nichts in meiner Vorschrift. Man wird Euch besuchen, und Ihr mögt dann fragen. Vorläufig könnt Ihr für Euer Geld Lebensmittel haben, weiter nichts.«
    In der Zelle befanden sich ein Stuhl, ein Tisch und eine Strohmatratze. Der Kerkermeister nahm, ehe er sich entfernte, an diesen Gegenständen und an den vier Mauern eine all
gemeine Untersuchung vor, und dem Gefangenen, der ihm gegenüber an der Wand lehnte, kam während dieses Geschäfts die wunderliche Vorstellung, der Mann sei im Gesicht und am Leib so ungesund gedunsen, daß er aussehe wie ein vom Wasser aufgeschwemmter Ertrunkener. Nachdem der Schließer fort war, dachte Darnay weiter in seiner wunderlichen Weise: ›Jetzt bin ich verlassen wie ein Toter.‹ Er beugte sich nieder, um die Matratze anzusehen, wandte sich aber mit Grauen davon ab und sagte zu sich selbst: ›Und in diesen kriechenden Würmern erkenne ich den ersten Zustand des Leibes nach dem Tode.‹
    ›Fünf Schritt lang, viereinhalb breit, fünf Schritt lang,

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