Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
irgendein Gegenstand im Zimmer verzerrt wiedergeben konnte – ein Schatten des Entsetzens.
    Er hatte die Räumlichkeiten der Bank bezogen, voll Treue gegen das Haus, von dem er ein Teil geworden wie der tief wur
zelnde Efeu. Es erfreute sich zufällig einer gewissen Sicherheit infolge der patriotischen Bestimmung des Hauptgebäudes; aber das treue Herz des alten Ehrenmannes brachte dies nicht in Anschlag. Seiner Pflichterfüllung gegenüber waren ihm solche Nebenumstände gleichgültig. Auf der anderen Seite des Hofes, unter einer Kolonnade, befand sich ein ausgedehnter Kutschenraum, in dem noch immer Monseigneurs Kutschen standen. An zwei Säulen waren große flackernde Pechpfannen befestigt, und vor ihnen, im Freien, sah man einen mächtigen Schleifstein, eine rohe Maschine, die man augenscheinlich in der Eile aus einer benachbarten Schmiede oder sonstigen Werkstätte herbeigeschafft hatte. Mr. Lorry schauderte, wenn er beim Aufstehen durch das Fenster dieser harmlosen Gegenstände ansichtig wurde, und kehrte dann wieder zu seinem Sitz am Feuer zurück. Er hatte nicht nur das Glasfenster, sondern auch den Gittervorhang geöffnet und mit zitternden Händen beide wieder geschlossen.
    Von der Straße hinter der hohen Mauer und dem starken Tor her vernahm man das gewöhnliche Gesumm einer großen Stadt und daraus bisweilen ein unbeschreibliches Klingen, gespenstisch und unirdisch, als ob ungewohnte Töne schrecklichster Art zum Himmel aufstiegen.
    »Gott sei Dank«, sagte Mr. Lorry, die Hände zusammenschlagend, »daß niemand, der mir nah und teuer ist, sich heute nacht in dieser schrecklichen Stadt befindet. Möge Er Erbarmen haben mit allen, die in Gefahr sind!«
    Bald nachher tönte die Glocke an dem großen Tor. ›Sie sind zurückgekommen‹, dachte er und blieb lauschend sitzen. Aber es brach nicht geräuschvoll in den Hof herein, wie er erwartet hatte. Er hörte, wie das Tor wieder zuschlug; dann war alles still.
    Die Bangigkeit, die seine Brust beengte, flößte ihm im Hin
blick auf die Bank jene unbestimmte Unruhe ein, deren man sich unter solchen Umständen nicht erwehren kann, wenn man sich einer schweren Verantwortlichkeit bewußt ist. Wohl war alles gut behütet, und er wollte eben bei den treuen Wächtern einen Umgang halten, als seine Tür plötzlich aufging und zwei Gestalten hereinstürzten, bei deren Anblick er erstaunt zurückfuhr.
    Lucie und ihr Vater! Lucie, die ihre Arme ihm entgegenbreitete, mit jenem alten Blick, so voll gesammelten und eindringlichen Ernstes, daß es den Anschein gewann, er sei ausdrücklich auf ihr Gesicht gestempelt, um ihm Kraft und Nachdruck zu verleihen in diesem Abschnitt ihres Lebens.
    »Was soll das?« rief Mr. Lorry in atemloser Verwirrung. »Was gibt es? Lucie! Manette! Was ist vorgefallen? Was führt euch hierher? Was ist los?«
    Blaß und außer sich, mit flehentlicher Miene stürzte sie in seine Arm und rief:
    »Oh, mein teurer Freund – mein Gatte!«
    »Euer Gatte, Lucie?«
    »Charles.«
    »Was ist mit Charles?«
    »Er ist hier.«
    »Hier – in Paris?«
    »Ja, schon seit einigen Tagen – seit drei oder vier –, ich weiß nicht wie vielen, denn ich kann meine Gedanken nicht zusammenbringen. Eine edelmütige Absicht führte ihn ohne unser Vorwissen hierher; er wurde am Schlagbaum angehalten und ins Gefängnis geschickt.«
    Der alte Mann stieß einen ununterdrückbaren Schrei aus. Jetzt im nämlichen Moment läutete die Glocke an dem großen Tor wieder, und lautes Geräusch von Schritten und Stimmen drang in den Hof.
    »Was für ein Lärm ist das?« fragte der Doktor, an das Fenster tretend.
    »Seht nicht hinaus!« rief Mr. Lorry. »Seht ja nicht hinaus, Manette! Wenn Euch Euer Leben lieb ist, rührt die Jalousie nicht an!«
    Der Doktor wandte sich um, ohne die Hand von dem Fensterriegel zu entfernen, und sagte mit einem ruhigen, kühnen Lächeln:
    »Mein teurer Freund, ich habe in dieser Stadt ein gefeites Leben; denn bin ich nicht ein Bastillegefangener gewesen? Es gibt keinen Patrioten in Paris – in Paris? nein, in ganz Frankreich –, der, wenn er weiß, daß ich in der Bastille lag, mich antasten würde, es sei denn, um mich mit Umarmungen zu überhäufen und im Triumph umherzutragen. Mein altes Unglück hat mir eine Gewalt verliehen, die uns durch die Barriere half, uns dort Kunde von Charles verschaffte und uns hierher brachte. Ich wußte, daß dies der Fall sein würde – wußte, daß es mir gelingen müsse, Charles von aller Gefahr zu befreien, und

Weitere Kostenlose Bücher