Eine Geschichte aus zwei Städten
Schrecken umher. Eines Nachmittags, als eben ein leichter Schnee fiel, war sie wieder an der gewöhnlichen Ecke angelangt. Es war ein Tag wilder Freude – irgendein Fest. Sie hatte auf dem Herweg die Häuser mit kleinen Spießen, auf denen kleine rote Mützen staken, auch mit dreifarbigen Bändern und mit der unvermeidlichen Inschrift – meist auch in dreifarbigen Buchstaben – geziert gesehen: Eine und unteilbare Republik. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod!
Die erbärmliche Hütte des Holzhackers war so klein, daß ihre ganze Wandfläche nur einen sehr knappen Raum bot für diese Inschrift. Gleichwohl hatte er jemand aufgetrieben, der sie für ihn hinkritzelte, obschon das Wort Tod kaum mehr ei
nen Platz finden konnte. Über dem Giebel seines Hauses sah man den Spieß und die Mütze, an der es kein guter Bürger fehlen lassen durfte, und in einem Fenster hatte er seine Säge ausgestellt mit der Bezeichnung: ›Kleine heilige Guillotine‹; denn das große scharfe Frauenzimmer war inzwischen vom Volk heilig gesprochen worden. Seine Werkstatt war geschlossen und er nicht zu Hause. Dieses Alleinsein war für Lucie ein großer Trost.
Aber er war nicht weit weg. Sie hörte bald das Gestampf von Füßen und näher kommendes Geschrei, das sie mit Furcht erfüllte. Einen Augenblick später wogte ein Volkshaufen um die Ecke der Gefängnismauer, in seiner Mitte befand sich der Holzhacker Hand in Hand mit der Rache. Es konnten nicht weniger als fünfhundert Menschen sein, und sie tanzten einher wie fünftausend wilde Geister. Die Musik bildete ihr eigener Gesang. Sie tanzten zu dem beliebten Revolutionslied und hatten dazu einen Takt, der wie ein gemeinsames Zähneknirschen klang. Männer tanzten mit Weibern, Weiber mit Weibern und Männer mit Männern, wie sie eben der Zufall zusammenführte. Anfangs nahmen sie sich nur wie ein Strom von groben roten Mützen und grobwollenen Lumpen aus; aber wie sie den Platz füllten und um Lucie her haltmachten, begann auf einmal eine gräßliche Tanzfigur in wildem Toben. Sie bewegten sich vorwärts und rückwärts, schlugen sich nach den Händen, packten sich bei den Köpfen, wirbelten allein umher, faßten sich dann und drehten sich paarweise, bis viele von ihnen niedersanken. Während nun diese am Boden lagen, gaben die anderen sich die Hände und führten um sie her einen Reigen auf; dann riß der Ring, und die Einzelstücke bildeten wieder Ringe aus zweien und vieren, die sich drehten und drehten, bis alle auf einmal haltmachten; dann fingen sie wieder von vorn an, klopften und packten sich, zerrten ein
ander und kreisten dann in einer anderen Richtung. Plötzlich machten sie wieder halt, schlugen aufs neue ihren Takt an, bildeten Reihen von der Breite der Straße und fegten mit tief gesenkten Häuptern und hoch erhobenen Händen davon. Kein Ringkampf hätte nur halb so schrecklich aussehen können wie dieser Tanz. Er war offenbar eine tief gesunkene Belustigung – ein Etwas, das, aus einem unschuldigen Ursprung herstammend, in wahre Raserei ausgeartet war –, ein gesundes Vergnügen, umgewandelt in ein Mittel, das Blut aufzuregen, die Sinne außer sich zu bringen und das Herz zu verhärten. Die Anmut, die sich darin noch sichtbar machte, ließ ihn nur um so häßlicher erscheinen, indem sie zeigte, wie verkehrt alles von Natur aus Gute geworden war. Der jungfräuliche Busen so bloß, der hübsche, fast kindliche Kopf so verdreht, die feinen Füße zierlich sich bewegend in dieser Pfütze von Kot und Blut, das waren lauter Stücke einer aus den Fugen gegangenen Zeit.
Dies war die Carmagnole. Während sie vorüberrauschte und Lucie entsetzt und verwirrt auf der Schwelle zu der Hütte des Holzhackers zurückblieb, fiel der flockige Schnee so ruhig und blieb so weiß und so weich liegen, als sei der Boden nie der Schauplatz einer solchen Szene gewesen.
»O mein Vater!«, denn er stand vor ihr, als sie die Augen wieder aufschlug, die sie eine Weile mit der Hand bedeckt hatte, »welch ein gräßliches Schauspiel!«
»Ich weiß es, meine Liebe, ich weiß es – habe es schon oft mit angesehen. Doch fürchte dich nicht. Niemand von ihnen wird dir etwas zuleide tun.«
»Ich fürchte nichts für mich selbst, Vater. Aber wenn ich an meinen Gatten denke und an das Erbarmen dieses Volkes …«
»Wir wollen ihn bald aus dem Bereich dieses Erbarmens ge
schafft haben. Ich verließ ihn, wie er zu dem Fenster hinaufkletterte, und komme her, es dir zu sagen. Es ist niemand
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