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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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hier, der dich sehen kann. Wirf ihm eine Kußhand zu nach dem höchsten Dachsims hinauf.«
    »Ich tue es, Vater, und meine Seele eilt mit hin!«
    »Du kannst ihn nicht sehen, meine arme Tochter?«
    »Nein, Vater«, versetzte Lucie mit Tränen der Sehnsucht im Auge, während sie eine Kußhand nach dem Gefängnis hin warf, »nein.«
    Ein Fußtritt im Schnee. Madame Defarge.
    »Ich grüße Euch, Bürgerin«, sagte der Doktor.
    »Ich grüße Euch, Bürger.«
    Dies im Vorübergehen. Weiter nichts. Madame Defarge war fort, hingeglitten wie ein Schatten über den weißen Weg.
    »Gib mir deinen Arm, meine Liebe! Du kannst seinetwegen mit heiterem, mutigem Geist nach Hause gehen. Es war gut so«, bemerkte er, als sie den Platz verlassen hatten; »es wird nicht umsonst sein. Charles ist für morgen vorgeladen.«
    »Für morgen?«
    »Es ist keine Zeit zu verlieren. Ich bin gut vorbereitet; aber es müssen Vorkehrungen getroffen werden, die nicht möglich waren, ehe er vor das Tribunal geladen war. Bis jetzt hat er noch keine Mitteilung erhalten; ich weiß jedoch, daß er für morgen beschieden ist und nach der Conciergerie gebracht werden soll. Ich bin zu guter Zeit unterrichtet worden. Du hast doch keine Angst?«
    Sie vermochte kaum hervorzubringen:
    »Ich verlasse mich auf Euch.«
    »Das kannst du unbedingt. Die Ungewißheit wird bald zu Ende sein, mein Herz. In wenigen Stunden ist er dir zurückgegeben. Ich habe ihm jeden erdenklichen Schutz gesichert. Jetzt muß ich Lorry aufsuchen.«
    Er hielt an. Man hörte ein schwerfälliges Gerassel von Rädern. Beide wußten nur zu gut, was es zu bedeuten hatte. Eins. Zwei. Drei. Drei Karren fuhren mit ihrer unglücklichen Ladung über den tondämpfenden Schnee.
    »Ich muß Lorry sprechen«, wiederholte der Doktor, indem er sie in eine andere Richtung führte.
    Der standhafte alte Ehrenmann hielt noch immer aus auf seinem Posten. Er und seine Bücher wurden häufig in Anspruch genommen, wenn es sich um konfisziertes und der Nation zugefallenes Eigentum handelte. Was er für die Eigentümer retten konnte, das rettete er. In der ganzen Welt hätte sich kein besserer Mann finden lassen, um in aller Stille und Verschwiegenheit festzuhalten, was Tellsons zur Verwahrung übergeben war.
    Ein trüber rotgelber Himmel und der von der Seine aufsteigende Nebel verkündeten den Einbruch der Dunkelheit. Es war schon finster, als sie die Bank erreichten. Der stattliche Palast von Monseigneur war verödet und verlassen. Über einem Haufen von Staub und Asche im Hofe las man die Inschrift: Nationaleigentum. Eine und unteilbare Republik. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod.
    Wer mochte das wohl sein bei Mr. Lorry auf dem Sessel, der Mann im Reitanzug, der nicht gesehen werden wollte? Von welchem neuen Besucher kam Mr. Lorry, aufgeregt und überrascht, um Lucie zu umarmen? Wem wiederholte er augenscheinlich ihre stotternden Worte, als er mit lauter Stimme und das Gesicht der Tür zugewendet, aus der er gekommen war, sagte: »Nach der Conciergerie gebracht und für morgen vorgeladen?«
    Sechstes Kapitel
    Triumph
    Das gefürchtete Tribunal von fünf Richtern, der öffentliche Ankläger und die gewählten Geschworenen hielten jeden Tag Sitzung. Ihre Anklagelisten wurden jeden Abend ausgegeben und von den Kerkermeistern der verschiedenen Gefängnisse ihren Gefangenen vorgelesen. Der ständige Schließerwitz lautete: ›Kommt heraus und hört die Abendzeitung, ihr da drinnen.‹
    »Charles Evrémonde, genannt Darnay!«
    So begann diesmal die Abendzeitung von La Force.
    Wenn ein Name verlesen war, trat der Bezeichnete beiseite auf einen Platz, der jenen vorbehalten blieb, die auf der verhängnisvollen Liste standen. Charles Evrémonde, genannt Darnay, kannte diesen Brauch aus langer Erfahrung; er hatte Hunderte so weggehen sehen.
    Der Kerkermeister, der zum Lesen eine Brille brauchte, schaute über die Gläser weg, um sich zu überzeugen, daß er seinen Platz eingenommen, und fuhr dann in der Liste fort, indem er nach jedem Namen dieselbe Pause machte. Es waren ihrer dreiundzwanzig; aber nur zwanzig hatten geantwortet; denn einer von den so aufgebotenen Gefangenen war im Gefängnis gestorben und vergessen worden, die beiden anderen hatte man bereits guillotiniert und gleichfalls vergessen. Die Liste kam zum Verlesen in der gewölbten Halle, wo Darnay am Abend seiner Ankunft der Gesellschaft der Gefangenen begegnete. Von jenen waren alle samt und sonders bei dem Gemetzel gefallen. Jedes

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