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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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spielten, auf den nacktarmigen rußigen Arbeiter mit der offenen Brust, der den anderen eine Zeitung vorlas, auf die Waffen, die die Männer bei sich führten oder zum Greifen nahe beiseite gestellt hatten, auf die zwei oder drei Kunden, die, den Kopf auf die Arme gelegt, schliefen und in den beliebten hochschulterigen zottigen schwarzen Spenzern sich wie schlummernde Bären oder Hunde ausnahmen – wie gesagt, sie achteten wenig auf die Anwesenden, sondern näherten sich einfach dem Schenktisch und deuteten durch Zeichen an, was sie wünschten.
    Während man ihnen den Wein zumaß, verabschiedete sich ein Mann von einem anderen in der Ecke und stand auf, um fortzugehen. Er kam dabei an Miß Proß vorbei. Als diese seiner ansichtig wurde, stieß sie einen Schrei aus und schlug die Hände zusammen.
    Im Nu war die ganze Gesellschaft auf den Beinen. Es gehörte zu den alltäglichen Vorkommnissen, daß jemand in Ver
teidigung einer Meinung von einem anderen niedergestochen wurde, und so wollte jedermann sehen, ob nicht eben einer gefallen sei; aber die Neugierigen bemerkten nichts als einen Mann und eine Weibsperson, die einander mit großen Augen ansahen, der Mann dem Äußeren nach ein Franzose und eingefleischter Republikaner, die Frau augenscheinlich eine Engländerin.
    Was die Jünger des Republikaners Brutus bei einer so bitter getäuschten Erwartung sprachen, war wohl recht lebendig und laut, hätte aber für Miß Proß und ihren Beschützer, und wenn sie ganz Ohr gewesen wären, ebensogut Hebräisch oder Chaldäisch sein können. In ihrer Überraschung hörten sie jedoch nichts; denn wir müssen bemerken, daß nicht nur Miß Proß in einen Zustand großer Aufregung und Verwunderung geraten war, sondern auch Mr. Cruncher seinerseits vor Staunen sich kaum zu fassen wußte.
    »Was gibt's da?« fragte der Mann, der Miß Proß zu ihrem Aufschrei Anlaß gegeben hatte, halblaut in ärgerlichem Ton, aber auf englisch.
    »Oh, Salomon, lieber Salomon!« rief Miß Proß, ihre Hände wieder zusammenschlagend. »Nachdem ich dich so lange mit keinem Auge mehr gesehen und kein Sterbenswörtchen von dir gehört habe, muß ich dich hier wiederfinden!«
    »Nenne mich nicht Salomon. Willst du mich ans Messer liefern?« entgegnete der Mann furchtsam und verstohlen.
    »Bruder! Bruder!« rief Miß Proß, in Tränen ausbrechend, »bin ich je hart gegen dich gewesen, daß du eine so grausame Frage an mich stellen kannst?«
    »Dann halt dein vorlautes Maul«, sagte Salomon, »und komm mit hinaus, wenn du mit mir sprechen willst. Bezahle deinen Wein und komm. – Wer ist dieser Mann?«
    Die liebevolle Miß Proß schüttelte bekümmert den Kopf
über ihren keineswegs zärtlichen Bruder und antwortete, während ihr Tränen im Auge standen:
    »Mr. Cruncher.«
    »Er soll auch mitkommen«, sagte Salomon. »Hält er mich für einen Geist?«
    Mr. Cruncher hatte in der Tat ganz das Aussehen eines von einem Gespenst verschüchterten Mannes. Er sprach jedoch kein Wort, und Miß Proß, die durch ihre Tränen nur mit Mühe den Inhalt ihrer Tasche unterschied, bezahlte den Wein. Während dies geschah, wandte sich Salomon zu den Verehrern des alten Republikaners Brutus und richtete in französischer Sprache einige Worte der Erklärung an sie, worauf sie an ihre alten Plätze und zu ihrem früheren Treiben zurückkehrten.
    »Nun«, sagte Salomon, an der dunklen Straßenecke haltmachend, »was willst du!?«
    »Wie schrecklich herzlos von einem Bruder, an dem ich immer mit soviel Liebe gehangen habe«, rief Miß Proß, »daß er mich so begrüßt und mir auch keine Spur von Liebe zeigt!«
    »Da! Zum Henker auch! Da!« sagte Salomon und stieß seine Lippen flüchtig auf die seiner Schwester. »Bist du jetzt zufrieden?«
    Miß Proß schüttelte nur den Kopf und weinte still fort.
    »Wenn du erwartest, daß ich überrascht sein soll«, fügte ihr Bruder hinzu, »so bist du im Irrtum. Deine Anwesenheit war mir nicht unbekannt; ich kenne die meisten Leute, die hier sind. Wenn du wirklich nicht die Absicht hast, mein Leben in Gefahr zu bringen – und ich traue dir nur halb –, so geh so bald wie möglich deiner Wege und laß mich die meinigen gehen. Ich habe zu tun. Ich stehe in öffentlichem Dienst.«
    »Ach, mein Bruder Salomon«, rief Miß Proß in kläglichem Ton, indem sie die tränenfeuchten Augen zu ihm aufschlug, »ein Engländer, der das Zeug in sich hatte, einer der besten
und größten Männer seines Vaterlandes zu werden, im Dienste der Ausländer

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