Eine Geschichte aus zwei Städten
im Laden nach der Ware umschaute, sie ergriff und nicht wieder losließ, bis der Handel abgeschlossen war. Ohne ein Handeln ging es dabei nicht ab, und bei der Würdigung des Preises hielt sie stets einen Finger weniger in die Höhe als der Verkäufer, wie viele dieser ihr auch vorzeigen mochte.
»Nun, Mr. Cruncher«, sagte Miß Proß, deren Augen ganz rot von Glück waren, »wenn Ihr bereit seid, so bin ich's auch.« Jerry versicherte heiser, daß er Miß Proß zu Diensten stehe. Sein Rost hatte sich längst verloren; aber nichts vermochte die Stacheln seines Haares abzufeilen.
»Wir brauchen allerhand Dinge und werden nicht so bald damit fertig werden«, sagte Miß Proß. »Unter anderem Wein. Diese Rotköpfe werden saubere Trinksprüche ausbringen, wo wir ihn auch kaufen mögen.«
»Soviel wie Ihr davon versteht, Miß«, entgegnete Mr. Jerry, »wird es so ziemlich aufs gleiche hinauslaufen, ob sie auf Eure Gesundheit trinken oder die des Meisters Urian.«
»Wer ist das?« fragte Miß Proß.
Mr. Cruncher erklärte ihr mit einiger Zaghaftigkeit, daß es der Leibhaftige sei.
»Ha!« sagte Miß Proß, »es ist kein Dolmetscher nötig, um zu erraten, was diese Unholde sagen wollen. Sie haben nur einen Gedanken im Kopfe, und der ist Unfug und Mord!«
»Still, meine Liebe! Bitte, bitte, seid vorsichtig!« rief Lucie.
»Ja, ja, ja, ich will vorsichtig sein«, entgegnete Miß Proß; »aber unter uns darf ich wohl sagen, ich hoffe, daß wir auf der Straße nicht mit Umarmungen erstickt werden. Geht mir nur nicht von diesem Feuer weg, mein Vögelchen, bis ich wieder zurück bin. Achtet auf den lieben Mann, der Euch aufs neue geschenkt worden ist, und laßt Euer hübsches Köpfchen auf seiner Schulter ruhen, wie Ihr's jetzt tut, bis ich Euch wie
dersehe. Darf ich eine Frage an Euch stellen, Doktor Manette, eh ich ausgehe?«
»Ich denke wohl, daß man Euch diese Freiheit gestatten kann«, antwortete der Doktor lächelnd.
»Um auf die Frage zu kommen, Doktor Manette: Wir haben« – es lag in der Art der guten Person, über jeden Gegenstand, der ihnen allen besondere Sorge machte, eine gewisse Gleichgültigkeit zur Schau zu tragen und ihn gleichsam nur gelegentlich zu berühren –, »wir haben jetzt doch gute Aussicht, von diesem Platze fortzukommen?«
»Ich fürchte, noch nicht. Es wäre jetzt noch gefährlich für Charles.«
»Hm, hm, hm!« sagte Miß Proß, unterdrückte aber gutmütig einen Seufzer, als sie nach dem im Widerschein des Feuers glänzenden goldenen Haar ihres Lieblings hinblickte, »nun, dann hilft nichts als Geduld haben und warten. Wir müssen den Kopf oben behalten und Hände und Füße brauchen, wie mein Bruder Salomon zu sagen pflegte. Jetzt, Mr. Cruncher! Rührt Euch nicht von der Stelle, mein Vögelchen.«
Sie entfernten sich, und Lucie, ihr Gatte, ihr Vater und das Kind blieben an dem hellen Feuer zurück. Mr. Lorry wurde jeden Augenblick aus der Bank erwartet. Miß Proß hatte die angezündete Lampe in eine Ecke gestellt, damit man sich ungestört des behaglichen Feuerscheins erfreuen konnte. Die kleine Lucie saß neben ihrem Großvater und hatte die Händchen um seinen Arm geschlungen, während er ihr in einem Ton, der kaum viel mehr als ein Flüstern genannt werden konnte, ein Märchen von einer großen mächtigen Fee zu erzählen begann, die eine Gefängnismauer sich auftun ließ und einen Gefangenen befreite, der ihr einmal einen Dienst geleistet hatte. Der Geist der Ruhe herrschte in dem Gemach und schien auch allmählich Eingang in dem Herzen Lucies zu finden.
»Was ist das?« rief sie plötzlich.
»Meine Liebe, nimm dich zusammen!« sagte ihr Vater, indem er seine Erzählung unterbrach und seine Hand auf die ihrige legte. »Du befindest dich in einem ganz verstörten Zustand. Du erschrickst vor jeder Kleinigkeit – vor einem Nichts. Du, deines Vaters Tochter?«
»Ich meinte, Vater«, sagte Lucie sich entschuldigend, mit bleichem Gesicht und stotternder Stimme, »ich hätte einen fremden Schritt auf der Treppe gehört.«
»Kind, auf der Treppe herrscht Totenstille.«
Er hatte kaum diese Worte ausgesprochen, als ein Schlag gegen die Tür geführt wurde.
»O Vater, Vater, was kann das sein? Versteckt Charles – rettet ihn!«
»Mein Kind«, sagte der Doktor, indem er aufstand und seine Hand auf ihre Schulter legte, »ich habe ihn ja schon gerettet! Welche Schwäche, meine Liebe! Ich will zur Tür gehen.«
Er nahm das Licht auf, ging durch die beiden Vorderräume und
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