Eine Geschichte aus zwei Städten
daß er wieder festgenommen worden ist.«
Mr. Lorrys geübtes Auge las in dem Gesicht des Sprechers, daß es verlorene Zeit wäre, sich bei diesem Punkt aufzuhalten. Verwirrt, aber doch in dem Bewußtsein, daß vielleicht seine Geistesgegenwart in Anspruch genommen werden dürfte, suchte er sich zu fassen und hörte in stummer Aufmerksamkeit zu.
»Ich will zwar hoffen«, fuhr Sydney fort, »daß ihm der Name und der Einfluß des Doktors Manette morgen ebensogut zustatten kommen wird – Ihr sagtet, er werde morgen wieder vor Gericht gestellt werden, Mr. Barsad?«
»Ja, ich glaube.«
»– daß er ihm morgen ebensogut zustatten kommen wird wie heute. Aber vielleicht ist's auch nicht der Fall. Ich gestehe, Mr. Lorry, daß mein Glaube schwach ist, da es nicht in Doktor Manettes Macht gelegen hat, diese Verhaftung zu verhindern.«
»Er hat vielleicht nicht gewußt, was im Werk war«, sagte Mr. Lorry.
»Schon das ist sehr beunruhigend, wenn man bedenkt, wie er um seinen Schwiegersohn bemüht ist.«
»Das ist wahr«, räumte Mr. Lorry ein, die zitternde Hand ans Kinn führend, während er einen angstvollen Blick auf Carton heftete.
»Kurz«, sagte Sydney, »wir leben in einer verzweifelten Zeit, in der man um verzweifelte Einsätze ein verzweifeltes Spiel spielt. Mag der Doktor seine Rechnung aufs Gewinnen machen; ich will aufs Verspielen halten. Ein Menschenleben ist hier nichts
wert. Man kann heute vom Volk im Triumph heimgetragen und morgen zum Tode verurteilt werden. Wohlan, der Einsatz, um den ich im schlimmsten Falle zu spielen im Sinn habe, ist ein Freund in der Conciergerie. Den will ich gewinnen, und der Freund ist Mr. Barsad.«
»Dann müßt Ihr gute Karten haben, Sir!« sagte der Spion.
»Ich will sie mir betrachten – will sehen, was ich in der Hand habe. Mr. Lorry, Ihr kennt meine schwache Seite –, wenn Ihr mir einen Schluck Branntwein geben wolltet.«
Das Gewünschte wurde ihm vorgesetzt, und er trank ein Glas voll – trank ein zweites und schob die Flasche gedankenvoll zurück.
»Mr. Barsad«, fuhr er in dem Ton eines Menschen fort, der wirklich eine Handvoll Karten überschaut, »Gefängnisschaf, Bote der republikanischen Komitees, bald Gefängniswärter, bald Gefangener, stets aber Spion und geheimer Angeber, hier um so wertvoller, weil er als Engländer bei seinen Eigenschaften weniger dem Verdacht gedungener Zwischenträgerei ausgesetzt ist, stellt sich seinen Auftraggebern unter einem falschen Namen vor. Das ist eine sehr gute Karte. Mr. Barsad, jetzt im Solde der republikanischen französischen Regierung, diente früher der aristokratischen englischen Regierung, den Feinden Frankreichs und der Freiheit. Das ist eine vortreffliche Karte. Es folgt daraus in diesem Lande des Argwohns so klar wie der Tag, Mr. Barsad stehe noch immer im Solde der englischen Regierung, sei ein Spion Pitts, ein verräterischer Feind, den die Republik an ihrem Busen nährt, der englische Verräter und Vollbringer all jenes Unheils, von dem man so viel spricht und so wenig zu sehen bekommt. Das ist eine Karte, die sich nicht wird stechen lassen. – Seid Ihr mir gefolgt, Mr. Barsad?«
»Nicht so, um Euer Spiel zu verstehen«, versetzte der Spion etwas unruhig.
»Ich spiele mein As: Denunziation des Mr. Barsad an das nächste Sektionskomitee. – Betrachtet Euer Spiel, Mr. Barsad, und seht, was Ihr in der Hand habt. Laßt Euch Zeit dazu.«
Er zog die Flasche wieder heran, füllte sich abermals sein Glas und trank es aus. Der Spion sah angstvoll zu, weil er fürchtete, Mr. Carton könnte sich in einen Zustand hineintrinken, der ihn mit seiner Drohung plötzlich Ernst machen ließe. Der merkte das, schenkte sich wieder ein und trank nochmals aus.
»Betrachtet Euch bedächtig Eure Karten, Mr. Barsad. Ihr braucht Euch nicht zu übereilen.«
Barsads Spiel stand schlechter, als sich vermuten ließ. Er hatte schlechte Karten in der Hand, von denen Sydney Carton nichts ahnte. Nachdem er in England, nicht weil er entbehrlich geworden (denn das englische Großtun mit Erhabensein über Spionage und Heimlichkeit ist von sehr neuem Datum), sondern wegen zu vieler erfolgloser Zeugeneide seinen ehrenvollen Posten verloren, war er über den Kanal gegangen und hatte in Frankreich Dienste genommen, anfangs als Aufhetzer und Lauscher unter seinen Landsleuten, mit der Zeit aber auch als Anstifter und Spion unter den Franzosen. Er wußte, daß er unter der gestürzten Regierung in Saint Antoine und in Defarges Weinschenke sich
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