Eine Geschichte aus zwei Städten
stand und auf das Plätschern des Wassers horchte, das die Ufermauern der Insel von Paris mit ihrem hell im Mondschein daliegenden malerischen Gewirr von Häusern und Kirchen bespülte, kam der Tag kalt wie das Gesicht einer Leiche am Himmel herauf. Bleich wandte sich die Nacht mit Mond und Sternen ab und verschied; es hatte für eine Weile den Anschein, als sei die Schöpfung der Herrschaft des Todes überliefert.
Als aber die herrliche Sonne aufging, schien sie mit ihren langen glänzenden Strahlen jene Worte, den Refrain der Nacht, gerade und warm in sein Herz einzuführen. Und ehrfurchtsvoll mit beschatteten Augen ihnen folgend, glaubte er zwischen sich und der Sonne eine Lichtbrücke ausgespannt zu sehen, unter der funkelnd der Fluß dahinströmte.
Der mächtige Strom, so geschwind, so tief, so sicher, nahm sich in der Morgenstille wie ein gleichgesinnter Freund aus. Er ging den Fluß entlang, weit über die Häuser hinaus, und ließ sich endlich am Ufer von der hellen Sonne einschläfern. Als er erwachte und wieder aufstand, zögerte er noch eine Weile und sah einem sinnlos sich drehenden Wirbel zu, bis die Strömung ihn mit fortriß und dem Meere zuführte. – »Wie mich!«
Ein Frachtboot mit einem Segel von der gedämpften Farbe des welken Laubes tauchte auf, kam an ihm vorbei und verschwand wieder. Nachdem die Kielspur sich auf dem Wasser verwischt hatte, schloß er das Gebet, das aus den Tiefen seiner Seele um barmherzige Nachsicht mit seiner Blindheit und seinen Verirrungen flehte, mit den Worten: ›Ich bin die Auferstehung und das Leben.‹
Mr. Lorry war bereits ausgegangen, als er in dessen Wohnung anlangte, und es ließ sich leicht denken, welchen Weg der gute alte Mann eingeschlagen hatte. Sydney Carton genoß
nur ein wenig Kaffee und etwas Brot, wusch sich dann, um sich zu erfrischen, und begab sich nach der Gerichtsstätte.
Dort war alles schon voll Regsamkeit und Gesumm. Das schwarze Schaf, vor dem viele furchtsam zurückwichen, verhalf ihm in dem Gedränge zu einer dunklen Ecke. Mr. Lorry war da und Doktor Manette; auch sie war zugegen und saß an der Seite ihres Vaters.
Als ihr Gatte hereingebracht wurde, warf sie ihm einen Blick zu, einen Blick, so kräftigend, so ermunternd, so voll inniger Liebe und zärtlicher Teilnahme, dabei selbst so mutig um seinetwillen, daß er ihm das gesunde Blut ins Gesicht trieb, seine Miene aufhellte und sein Herz neu belebte. Hätte jemand auf den Einfluß geachtet, den jener Blick auf Sydney Carton übte, so würde er an diesem die gleiche Wirkung wahrgenommen haben.
Jedes Auge war den Geschworenen zugewendet. Dieselben entschiedenen Patrioten und guten Republikaner wie gestern und vorgestern, wie morgen und übermorgen. Jedes Auge suchte nun die fünf Richter und den öffentlichen Ankläger auf. Von dieser Seite her war heute nichts Gutes zu hoffen; die Sache schien schon zum voraus schnöde, unerbittlich und mörderisch abgetan zu sein. Dann wandten sich diese Augen anderen im Gedränge zu und funkelten beifällig danach hin; und Köpfe winkten einander nickend zu, ehe sie in die Haltung gespannter Aufmerksamkeit übergingen.
Charles Evrémonde, genannt Darnay. Gestern in Freiheit gesetzt; gestern wieder angeklagt und aufs neue verhaftet. Anklageakte ihm gestern abend zugefertigt. Verdächtig und angeklagt als Feind der Republik, Aristokrat, Angehöriger einer Familie von Tyrannen, einer geächteten Rasse, die ihre jetzt abgeschafften Vorrechte zur schändlichen Bedrückung des Volkes mißbraucht hatte. Charles Evrémonde, genannt Darnay, kraft jener Achtung absolut tot vor dem Gesetz.
Dies, oder vielleicht in noch kürzerer Fassung, der Vortrag des öffentlichen Anklägers.
Der Präsident fragte, ob der Angeschuldigte öffentlich oder im geheimen denunziert worden sei.
»Öffentlich, Präsident.«
»Von wem?«
»Von drei Personen. Ernst Defarge, Weinschenk in Saint Antoine.«
»Gut.«
»Therese Defarge, sein Weib.«
»Gut.«
»Alexander Manette, Arzt.« Ein großes Getümmel brach jetzt in dem Gerichtshofe los, und mitten darin sah man Doktor Manette blaß und zitternd von seinem Sitze sich erheben.
»Präsident, ich erkläre Euch voll Entrüstung, daß dies Betrug und Fälschung ist. Ihr wißt, der Angeklagte ist der Gatte meiner Tochter. Meine Tochter und diejenigen, die ihr teuer sind, achte ich höher als mein Leben. Wo und wer ist der falsche Verschwörer, der sagt, ich klage den Gatten meines Kindes an?«
»Bürger Manette, seid
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