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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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die Schrift verlesen wurde.«
    »Ich habe sein Gesicht beobachtet«, entgegnete Madame unmutig und im Tone der Verachtung. »Jawohl, ich habe es beobachtet und auch darin gelesen, daß es nicht das Gesicht eines echten Freundes der Republik ist. Mag er sich mit seinem Gesicht in acht nehmen!«
    »Und du hast auch den Schmerz seiner Tochter wahrgenommen, Frau«, fügte er fürsprechend bei; »es muß schrecklich für ihn gewesen sein.«
    »Auch seine Tochter sah ich«, erwiderte Madame. »Ich habe sie mehr als einmal beobachtet – nicht nur heute, sondern auch zu anderen Zeiten. Ich beobachtete sie im Gerichtssaal und auf der Straße vor dem Gefängnis. Ich brauche nur meinen Finger aufzuheben …!«
    Sie schien ihn wirklich aufzuheben (der Zuhörer wandte
die Augen nicht von seiner Zeitung) und mit einem Klirren auf den Tisch vor ihr niederfallen zu lassen, als ob ein Beil fiele.
    »Die Bürgerin ist prächtig!« krächzte der Geschworene.
    »Sie ist ein Engel!« rief die Rache und umarmte sie.
    »Was dich betrifft«, fuhr Madame zu ihrem Mann unversöhnlich fort, »so würdest du, wenn es von dir abhinge – zum Glück ist es nicht der Fall –, diesen Menschen selbst jetzt noch retten.«
    »Nein«, beteuerte Defarge. »Nicht dieses Glas möchte ich aufheben um seinetwillen. Aber dabei muß es sein Bewenden haben. Ich sage, es darf nicht weitergehen.«
    »Da seht Ihr selbst, Jacques«, sagte Madame Defarge zornig, »und auch du siehst es, meine kleine Rache – ihr beide seht es. Aber hört mich an! Ich habe wegen anderer Verbrechen als dem der Tyrannei und Bedrückung diese Familie längst in meinem Register stehen und ihre Verfolgung, ihren Untergang beschlossen. Fragt meinen Mann, ob es nicht so ist.«
    »Es ist so«, bekräftigte Defarge, noch ehe er befragt wurde.
    »Im Anfang der großen Tage, als die Bastille fiel, kam er in den Besitz jener Denkschrift, brachte sie nach Hause, und wir lasen sie mitten in der Nacht, sobald die Stube leer und geschlossen war, hier auf dieser Stelle und beim Licht dieser Lampe. Fragt ihn, ob es nicht so ist.«
    »Es ist so«, sagte Defarge.
    »In der Nacht, in der wir die Schrift lasen, als die Lampe bereits erloschen war und schon der Tag hereinblickte durch diese Läden und die eisernen Gitter, sagte ich zu ihm, daß ich ihm ein Geheimnis mitzuteilen habe. Fragt ihn, ob es nicht wahr ist.«
    »Es ist wahr«, pflichtete Defarge abermals bei.
    »Ich teilte ihm dieses Geheimnis mit. Ich schlug mit diesen zwei Händen an diese meine Brust, wie ich es jetzt tue, und
sagte zu ihm: ›Defarge, ich wurde unter den Fischern an der Seeküste erzogen, und jene Bauernfamilie, die von den Brüdern Evrémonde eine so schändliche Behandlung erlitt, wie die Bastilleschrift berichtet, ist meine Familie. Defarge, jene Schwester des am Boden liegenden, auf den Tod verwundeten jungen Menschen war ich, jener Mann der Mann meiner Schwester, jenes ungeborene Kind ihr Kind, jener Bruder mein Bruder, jener Vater mein Vater – alle jene Toten sind meine Toten, und die Aufforderung, Rechenschaft zu verlangen für jene Taten, gilt mir!‹ Fragt ihn, ob es so ist.«
    »Ja, sie sagt die Wahrheit«, bestätigte Defarge aufs neue.
    »Dann gebiete dem Wind und Feuer Halt, nicht aber mir«, erwiderte Madame.
    Der tödliche Haß dieses Weibes erfüllte ihre beiden Zuhörer mit einer schrecklichen Lust, und sie belobten sie höchlich. Der Lauscher konnte fühlen, daß die Sprecherin leichenblaß war, ohne daß er den Blick auf sie richtete. Defarge, eine schwache Minorität, erinnerte mit einigen Worten an die mitleidige Gattin des Marquis, entlockte aber damit seinem Weibe nur eine Wiederholung ihrer letzten Erklärung: »Gebiete dem Wind und dem Feuer Halt, nicht aber mir!«
    Es kamen Gäste, und die Gruppe löste sich auf. Der englische Gast bezahlte, was er genossen hatte, verrechnete sich im Zählen des herausgegebenen Geldes und bat als Fremder um Auskunft über den Weg nach dem Nationalpalast. Madame begleitete ihn zur Tür und streckte den Arm aus, um ihn zurechtzuweisen. Dem Fremden kam dabei der Gedanke, ob es nicht eine gute Tat wäre, diesen Arm zu fassen, in die Höhe zu reißen und sie tödlich in die Brust zu treffen.
    Doch er ging seines Weges und verschwand bald im Schatten der Gefängnismauer. Zu der anberaumten Zeit fand er sich in Mr. Lorrys Zimmer ein, wo er den alten Herrn in ruheloser
Hast auf und ab gehend fand. Er sagte, er sei bis jetzt bei Lucie gewesen und habe sie nur auf einige

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