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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Wort wurde gesprochen, kein Laut fiel; sie stand wie ein Gespenst an seiner Seite, und er arbeitete fort.
    Endlich fügte sich's, daß er das Werkzeug, das er in der Hand hielt, mit einer Zange vertauschen mußte. Sie lag auf der anderen Seite, nicht auf der, wo das Mädchen stand. Er hatte sie ergriffen und beugte sich wieder über seine Arbeit, als seine
Augen ihr Kleid bemerkten. Er richtete sich auf und sah ihr Gesicht. Die beiden Zuschauer wollten vorwärts eilen, aber sie winkte ihnen ab. Sie fürchtete nicht, daß er sie mit der Zange verletzen könnte; nur ihnen war nicht wohl zumut bei der Sache.
    Er starrte sie mit einem furchtsamen Blick an, und nach einer Weile begannen seine Lippen einige Worte zu bilden, ohne jedoch Laute hervorzubringen. Endlich hörte man ihn während einer der Pausen zwischen seinen raschen und schweren Atemzügen sagen:
    »Was ist das?«
    Tränen entströmten ihren Augen, während sie ihre beiden Hände an die Lippen führte und ihm einen Kuß zuwarf; dann drückte sie die Hände an die Brust, als wollte sie das welke Haupt hier zur Ruhe bringen.
    »Ihr seid doch nicht des Schließers Tochter?«
    »Nein«, seufzte das Mädchen.
    »Wer seid Ihr?«
    Der Kraft ihrer Stimme noch nicht trauend, setzte sie sich auf die Bank an seine Seite. Er wich zurück, aber sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Ein seltsames Gefühl durchschauerte dabei seinen ganzen Körper; er legte sacht das Werkzeug nieder und starrte sie an.
    Sie hatte ihr goldiges Haar, das sie in langen Locken trug, rasch zurückgestrichen, so daß es über ihren Nacken niederfiel. Er brachte seine Hand allmählich näher und näher, faßte es an und betrachtete es. Dann aber wurde sein Geist plötzlich wieder irre und er nahm mit einem abermaligen Seufzer aufs neue seine Arbeit auf.
    Aber nicht für lange Zeit. Sie hatte seinen Arm losgelassen und die Hand auf seine Schulter gelegt. Nachdem er zweifelnd zwei- oder dreimal danach hingesehen, als wolle er sich über
zeugen, daß sie wirklich da liege, schob er die Arbeit beiseite, griff nach seinem Hals und holte eine geschwärzte Schnur, an der ein zusammengelegter Lappen befestigt war, hervor. Diesen schlug er sorgfältig auf seinem Knie auseinander und brachte ein kleines Löckchen hervor; es waren nur einige lange, goldige Haare, die er in irgendeiner alten Zeit wohl oft um seine Finger gewunden hatte.
    Er nahm ihr Haar wieder in seine Hand und betrachtete es aufmerksam.
    »Es ist dasselbe. Wie kann das sein? Wann war es? Wie war es?« Die Furche auf seiner Stirn kehrte zurück, und er schien eines ähnlichen Ausdrucks auf der ihrigen sich bewußt zu werden. Er drehte sie voll gegen das Licht und sah sie an.
    »Sie hatte ihr Haupt auf meine Schulter gelegt an jenem Abend, als ich vorgeladen wurde – sie fürchtete sich, als ich ging, obschon ich unbesorgt war –, als man mich nach dem Nordturm brachte, fand man diese Locke auf meinem Ärmel. ›Ihr laßt mir sie doch? Sie kann gewiß nicht einem Körper zur Freiheit verhelfen, aber vielleicht meinem Herzen.‹ Dies waren die Worte, die ich sagte. Ich erinnere mich ihrer recht wohl.«
    Seine Lippen mußten oftmals ansetzen, bis sie diese Rede hervorbrachten; nachdem er aber einmal die Worte gefunden, kamen sie zwar langsam, aber doch zusammenhängend heraus.
    »Wie war das? – Bist du's gewesen? «
    Abermals wollten die zwei Zuschauer sich ins Mittel legen, da er mit einer beängstigenden Hast sich an sie wandte. Sie aber rührte sich nicht unter seiner Hand, sondern sagte nur mit leiser Stimme:
    »Ich bitte euch, meine guten Herren, bleibt zurück – sprecht nicht, rührt euch nicht.«
    »Horch!« rief er. »Wessen Stimme war das?«
    Bei diesem Ausruf ließen seine Hände sie los und fuhren nach dem weißen Haar, das sie wahnsinnig zerrauften. Doch auch diese Aufregung erstarb, wie alles in ihm erstorben war, bis auf seine Schuhmacherei. Er faltete sein Päckchen wieder zusammen und versuchte es an seiner Brust zu verbergen. Dabei sah er sie fortwährend an und schüttelte düster den Kopf.
    »Nein, nein, nein; Ihr seid zu jung, zu blühend. Es kann nicht sein. Seht, was aus dem Gefangenen geworden ist. Dies sind nicht die Hände, die sie kannte; dies Gesicht ist ihr fremd, und eine solche Stimme hat sie nie gehört. Nein, nein. Es sind Menschenalter, seit sie war – seit er war – vor den langsamen Jahren des Nordturms. Wie heißt Ihr, mein zarter Engel?«
    Den sanfteren Ton, das mildere Wesen mit Freude begrüßend,

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