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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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daß der Ton den Hörenden unwillkürlich an einen in der Wüste verirrten, verhungernden Reisenden erinnerte, der seiner Heimat und den Freunden noch ein Lebewohl zuruft, ehe er sich niederlegt, um zu sterben.
    Einige Minuten stummer Arbeit waren vergangen, und die hohlen Augen hatten wieder aufgeblickt – nicht etwa aus Interesse oder Neugier, sondern vorläufig nur unter dem mechanischen Eindruck, daß die Stelle, wo der einzige zu ihrer Wahrnehmung gekommene Besuch stand, noch nicht leer sei.
    »Ich möchte etwas mehr Licht einlassen«, sagte Defarge, der seinen Blick nicht von dem Schumacher gewandt hatte. »Könnt Ihr ein bißchen mehr Helligkeit ertragen?«
    Der Schumacher hielt in seiner Arbeit inne, schaute mit einer ausdruckslosen Miene des Horchens bald rechts, bald links vor sich auf den Boden und sah endlich zu dem Sprecher auf.
    »Was habt Ihr gesagt?«
    »Ob Ihr etwas mehr Helligkeit ertragen könnt?«
    »Ich muß wohl, wenn Ihr sie hereinlaßt.«
    Er legte einen blassen Schatten von Nachdruck auf das zweite Wort.
    Die angelehnte Halbtür wurde ein wenig weiter geöffnet und vorderhand unter diesem Winkel befestigt. Ein breiter Lichtstreifen fiel in die Kammer und beleuchtete den ruhenden Arbeiter mit einem unvollendeten Schuh auf seinem Schoß. Sein Werkzeug und einige Stücke Leder lagen zu seinen Füßen und auf der Bank. Er hatte einen weißen, struppigen, aber nicht sehr langen Bart, ein hageres Gesicht und ungemein helle Augen. Diese hätten in den tiefen Höhlen, dem welken Zug unter den noch immer dunklen Augenbrauen und unter dem weißen Haar groß erscheinen müssen, wenn sie auch das Gegenteil gewesen wären; bei ihrer natürlichen Größe aber hatten sie ein wahrhaft unheimliches Aussehen gewonnen. Das zerfetzte gelbe Hemd ließ die Brust offen und zeigte einen völlig verbrauchten Leib. Er selbst, sein alter Leinwandkittel, seine losen Strümpfe und die übrigen Kleiderfetzen waren in der langen Abgeschiedenheit von Licht und Luft zu einem so gleichförmigen Pergamentgelb verblichen, daß man kaum einen Unterschied mehr finden konnte.
    Er schützte mit der Hand seine Augen vor dem Licht, und sogar ihre Knochen schienen durchsichtig zu sein. So saß er mit leerem Blicke da und ließ seine Arbeit ruhen. Er schaute nie auf die Gestalt vor ihm, ohne vorher rechts und links an sich niederzusehen, als habe er es verlernt, den Ton mit einem Ort in Verbindung zu bringen; auch sprach er nie, ohne sich zuvor so sonderbar zu bewegen, daß er vom Sprechen zunächst abgelenkt wurde.
    »Werdet Ihr wohl heute noch dieses Paar Schuhe fertigbringen?« fragte Defarge, indem er Mr. Lorry winkte, näher zu treten.
    »Was habt Ihr gesagt?«
    »Ob Ihr Eure Schuhe heute noch fertigzubringen gedenkt.«
    »Ich kann nicht sagen, ob ich's imstande bin. Vermutlich. Ich weiß es nicht.«
    Die Frage erinnerte ihn jedoch an seine Arbeit, und er beugte sich wieder darüber.
    Mr. Lorry trat schweigend vor und ließ die Tochter an der Tür zurück. Er mochte ein paar Minuten neben Defarge gestanden haben, als der Schuhmacher wieder aufschaute. Dieser zeigte kein Erstaunen über das Vorhandensein einer weiteren Person; aber die unsteten Finger seiner einen Hand verirrten sich, während er so aufblickte, zu seinen Lippen, die mit den Nägeln die blasse Bleifarbe teilten; dann ließ er die Hand wieder auf seine Arbeit sinken und beugte sich abermals über den Schuh. Das Aufsehen und die Gebärde hatten nur einen Augenblick gedauert.
    »Ihr seht, Ihr habt Besuch«, sagte Monsieur Defarge.
    »Was habt Ihr gesagt?«
    »Hier ist Besuch.«
    Der Schuhmacher schaute wieder wie zuvor auf, ohne jedoch die Hand von seiner Arbeit zu entfernen.
    »Gebt her!« sagte Defarge. »Hier ist ein Herr, der etwas von Schuhen versteht. Zeigt ihm die Arbeit, die Ihr vor Euch habt. Nehmt, Monsieur!«
    Mr. Lorry nahm den Schuh in seine Hand.
    »Sagt dem Herrn, was für ein Schuh es ist und wer ihn gemacht hat.«
    Es trat eine übermäßig lange Pause ein, bis der Schuhmacher endlich erwiderte:
    »Ich vergaß, was Ihr mich fragtet. Was habt Ihr gesagt?«
    »Ich sagte, ob Ihr nicht Monsieur darüber belehren wollt, was für ein Schuh es ist.«
    »Es ist ein Frauenschuh – ein Schuh zum Ausgehen für eine junge Dame. Ganz nach der gegenwärtigen Mode. Ich kenne zwar die Mode nicht aus eigener Anschauung, habe aber ein Muster in der Hand gehabt.«
    Er blickte mit einem kleinen Anflug von Stolz auf seinen Schuh.
    »Und wie heißt der Schuhmacher?«

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