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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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fragte Defarge.
    Da der alte Mann jetzt keine Arbeit zu halten hatte, so legte er zuerst die Knöchel seiner rechten Hand in die hohle Fläche der linken und dann die Knöchel der linken in die Fläche der rechten, worauf er mit einer Hand über das bärtige Kinn fuhr; dies trieb er eine Weile in regelmäßiger Abwechslung, ohne auch nur einen Augenblick auszusetzen. Die Aufgabe, ihn aus der Gedankenlosigkeit, in die er nach jeder seiner Reden versank, zu wecken, ließ sich mit den Belebungsversuchen an einem Ohnmächtigen oder mit der Bemühung vergleichen, den Geist eines im Sterben liegenden Menschen, von dem man noch eine Enthüllung wünscht, zurückzuhalten.
    »Habt Ihr mich nach meinem Namen gefragt?«
    »Jawohl.«
    »Hundertundfünf, Nordturm.«
    »Ist das alles?«
    »Hundertundfünf, Nordturm.«
    Mit einem müden Ton, der weder ein Seufzen noch ein Stöhnen war, beugte er sich wieder vor, bis die Stille aufs neue unterbrochen wurde.
    »Ihr seid kein Schuhmacher von Beruf?« sagte Mr. Lorry, ihn fest ansehend.
    Die hohlen Augen richteten sich auf Defarge, als erwarteten sie von ihm die Beantwortung der Frage; da aber von dieser Seite her keine Hilfe kam, so suchten sie eine Weile den Boden und blieben endlich auf dem Frager haften.
    »Ob ich ein Schuhmacher von Beruf bin? Nein, ich bin es nicht. Ich – ich habe es hier gelernt – aus mir selbst – ohne Lehrmeister. Ich bat um die Erlaubnis, mich …«
    Er war aufs neue für einige Minuten weg und wiederholte während dieser Zeit die beschriebenen Gebärden. Endlich kehrten seine Augen langsam zu dem Gesicht zurück, von dem sie abgeschweift waren, und ruhten darauf eine Weile, bis er zusammenfuhr und in der Art eines Schlafenden in dem Moment des Erwachens den unterbrochenen Gedankengang wiederaufnahm.
    »Ich bat um die Erlaubnis, etwas lernen zu dürfen, und erhielt sie auch lange Zeit nachher mit vieler Mühe. Seitdem habe ich immer Schuhe gemacht.«
    Als er die Hand nach dem Schuh ausstreckte, der ihm abgenommen worden war, sagte Mr. Lorry, sein Gesicht unverwandt betrachtend:
    »Monsieur Manette, erinnert Ihr Euch meiner nicht mehr?«
    Der Schuh sank zu Boden, und der alte Mann starrte den Fragenden an.
    »Monsieur Manette«, fuhr Mr. Lorry fort, indem er seine Hand auf Defarges Arm legte, »erinnert Ihr Euch nicht mehr dieses Mannes? Seht ihn an. Seht mich an. Entsinnt Ihr Euch nicht eines alten Bankiers, eines alten Geschäfts, eines alten Dieners und einer früheren Zeit, Monsieur Manette?«
    Während der alte Gefangene dasaß und mit seinem starren Blicke bald Mr. Lorry, bald Defarge ansah, drängten sich allmählich in der Mitte der Stirn einige längst verwischte Spuren wachen Verstandes durch die dichte Nebelhülle; doch traten sie schnell wieder in den Schatten zurück, wurden schwächer und waren entschwunden. Aber sie waren wenigstens dagewesen. Und so genau wiederholte sich der Ausdruck auf dem Antlitz des schönen jungen Wesens, das an der Wand hin nach
einer Stelle geschlichen war, von der aus es ihn sehen konnte und wo es jetzt stand, die Hände anfangs nur in angstvoller Teilnahme, vielleicht wohl gar in der Absicht erhebend, ihn zurückzuhalten oder seinen Anblick auszuschließen, jetzt aber sie gegen ihn ausstreckend, zitternd vor Verlangen, das gespenstische Gesicht an die warme jungfräuliche Brust zu drücken und es durch Liebe dem Leben und der Hoffnung zurückzugeben – ich sage, der Ausdruck wiederholte sich, obschon in kräftigeren Zügen, so genau auf dem schönen jugendlichen Antlitz, daß es den Anschein gewann, als sei er wie bewegliches Licht von ihm auf sie übergegangen.
    Bei ihm war es wieder dunkel geworden. Er betrachtete die beiden weniger und weniger achtsam; seine Augen suchten in düsterer Zerstreutheit abermals den Boden und schauten aufs neue in der alten Weise umher. Endlich nahm er mit einem tiefen Seufzer den Schuh auf und arbeitete weiter.
    »Habt Ihr ihn erkannt, Monsieur?« fragte Defarge flüsternd.
    »Ja, für einen Augenblick. Anfangs hatte ich keine Hoffnung, aber ein einziger Augenblick zeigte mir unzweifelhaft das Gesicht, das mir früher gut bekannt war. Pst! Wir wollen uns ein wenig zurückziehen. Pst!«
    Das Mädchen war von der Wand der Kammer weg und nahe zur Bank getreten, auf der er saß. Es lag etwas Unheimliches in dem Umstand, daß er, während er mit seiner Arbeit beschäftigt war, so gar keine Ahnung hatte von der Gestalt, die, wenn sie ihre Hand ausstreckte, ihn berühren konnte.
    Kein

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