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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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fiel die Tochter vor ihm auf die Knie nieder und legte bittend ihre Hände auf seine Brust.
    »Oh, Herr, zu einer andern Zeit sollt Ihr erfahren, wie ich heiße, wer meine Mutter, wer mein Vater war und wie ich nie etwas von ihrer schmerzlichen Geschichte erfahren habe. Jetzt aber, und hier, kann ich Euch das nicht sagen. Nur eines jetzt und hier – ich bitte, rührt mich an und segnet mich. Küßt mich, küßt mich! O Himmel! O Himmel!«
    Sein kalter weißer Kopf kam in Berührung mit ihrem strahlenden Haar, das ihn wärmte, als sei es das Licht der Freiheit, das auf ihn niederschien.
    »Wenn Ihr in meiner Stimme – ich weiß nicht, ob es so ist, aber ich hoffe es –, wenn Ihr in meiner Stimme eine Ähnlichkeit mit einer andern erkennt, die früher wie süße Musik in Eurem Ohre klang, so weint, weint um sie. Wenn Ihr durch die Berührung meines Haares an ein geliebtes Haupt erinnert werdet, das an Eurer Brust lag, als Ihr noch jung und frei waret, so weint, weint darum. Wenn Euch der Hinweis auf eine
Heimat, in der Euch meine treuen Dienste zuteil werden sollen, eine andere ins Gedächtnis ruft, die längst verödet ist, während Euer armes Herz verschmachtete, so weint, weint um sie!«
    Sie hielt seinen Hals inniger umschlungen und wiegte ihn an ihrer Brust wie ein Kind.
    »O mein Lieber, Guter, wenn meine Versicherung, daß Euer Jammer vorüber ist und daß ich hierhergekommen bin, um Euch fort, hinüber nach England zu bringen, wo Ihr Frieden und Ruhe finden werdet – wenn diese Versicherung den Gedanken an Euer zugrunde gerichtetes nützliches Leben und an unser heimatliches Frankreich, das so schändlich an Euch gehandelt hat, in Euch wachruft, so weint. Und wenn Ihr aus der Nennung meines Namens, aus dem Namen meines noch lebenden Vaters und dem meiner heimgegangenen Mutter erkennt, ich habe kniefällig einen verehrten Vater um Verzeihung zu bitten, weil ich mich nicht für ihn täglich abmühte und um seinetwillen nachts nicht die bittersten Tränen vergoß, weil die Liebe meiner armen Mutter mir seinen schrecklichen Zustand verborgen hatte, so weint, weint darüber. Ja, weint um sie – und um mich! Meine guten Herren, Gott sei Dank! Ich fühle diese heiligen Tränen auf meinem Antlitz, und sein Schluchzen schlägt gegen mein Herz. Oh, seht – danket, danket Gott statt unser.«
    Er war in ihre Arme und sein Haupt an ihre Brust gesunken – ein Anblick, so rührend und doch so schrecklich in dem Gedanken an die vorausgegangenen erschütternden Leiden, daß die beiden Zuschauer ihr Gesicht verbargen.
    Die Stille der Dachkammer erlitt keine Störung, und seine wogende Brust, sein erschütterter Körper hatten längst die Ruhe gefunden, die, ein Sinnbild des Menschenlebens, jedem Sturme folgt. Endlich kamen sie heran, um Vater und Tochter vom Boden aufzuheben. Er war allmählich hingesunken und
lag in der Ohnmacht der Erschöpfung da; sie hatte sich zu ihm niedergeworfen, damit ihr Arm ihm als Kissen, ihr niederhängendes Haar als Schirm gegen das Licht dienen möge.
    »Man sollte ihn nicht weiter stören«, sagte sie und erhob ihre Hand gegen Mr. Lorry, der sich mehrfach geschneuzt hatte und sich nun zu ihnen niederbeugte, »sondern alles zur Abreise von Paris in einer Weise vorbereiten, daß man ihn von dieser Tür aus fortführen kann.«
    »Aber bedenkt doch. Wird er eine solche Reise machen können?« fragte Mr. Lorry.
    »Viel besser, denke ich, als wenn er länger in dieser für ihn so schrecklichen Stadt bleiben müßte.«
    »Es ist wahr«, sagte Defarge, der neben dem Ohnmächtigen niedergekniet war. »Auch sprechen außerdem alle Gründe dafür, Monsieur Manette aus Frankreich fortzuschaffen. Soll ich einen Wagen und Postpferde bestellen?«
    »Das ist ein Geschäft«, versetzte Mr. Lorry, der nicht lange brauchte, um sich wieder in sein methodisches Wesen zu finden, »und wo sich's um Geschäfte handelt, bin ich an meinem Platz.«
    »Dann seid so gut, uns jetzt allein zu lassen«, drängte Miß Manette. »Ihr seht, wie ruhig er geworden ist, und habt wohl nichts mehr zu besorgen, wenn ich bei ihm bleibe. Warum auch? Wenn ihr die Tür abschließen wollt, um uns vor Störung zu bewahren, so zweifle ich nicht, daß ihr bei eurer Rückkehr ihn ebenso finden werdet, wie ihr ihn verlaßt. Jedenfalls will ich für ihn Sorge tragen, bis ihr wiederkommt, und dann werden wir ihn mitnehmen können.«
    Sowohl Mr. Lorry wie Defarge erhoben Einwendungen gegen diesen Vorschlag und wollten, daß wenigstens einer

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