Eine Geschichte aus zwei Städten
sehen. Die vorliegenden hatte er einer Schublade im Pult des Gefangenen entnommen. Sie waren nicht erst von ihm hineingelegt worden. Er konnte als Augenzeuge bekräftigen, daß der Gefangene gerade diese Listen französischen Herren in Calais und ähnliche Listen französischen Herren in Calais und Boulogne gezeigt hatte. Er liebte sein Land, konnte es nicht ertragen und machte Anzeige. Er hatte nie im Verdacht gestanden, eine silberne Teekanne gestohlen zu haben; er war wohl boshafterweise wegen eines silbernen Senf
topfes verleumdet worden, aber es hatte sich herausgestellt, daß es nur ein plattierter gewesen war. Den ersten Zeugen kannte er seit sieben oder acht Jahren, aber dies war nur ein zufälliges Zusammentreffen. Er nannte es nicht ein besonders merkwürdiges Zusammentreffen, denn ein solches Zusammentreffen sei meistens merkwürdig. Auch erschien es ihm nicht als ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß bei ihm gleichfalls wahrer Patriotismus der einzige Beweggrund sei. Er war ein echter Brite und hoffte, daß es noch viele geben werde wie ihn.
Die Schmeißfliegen summten wieder, und der Herr Staatsanwalt rief Mr. Jarvis Lorry auf.
»Mr. Jarvis Lorry, Ihr seid Kontorist in Tellsons Bank?«
»Ja.«
»Habt Ihr nicht an einem gewissen Freitag im November des Jahres eintausendsiebenhundertfünfundsiebzig nachts den Postwagen zu einer Geschäftsreise von London nach Dover benutzt?«
»Ja.«
»Reisten noch andere Passagiere mit?«
»Zwei.«
»Sind sie nicht im Laufe der Nacht unterwegs ausgestiegen?«
»Ja.«
»Mr. Lorry, seht den Gefangenen an. War er einer von den beiden Passagieren?«
»Ich kann das nicht behaupten.«
»Hat er Ähnlichkeit mit einem von jenen zwei Passagieren?«
»Beide waren so eingehüllt, die Nacht so dunkel und wir alle so zurückhaltend, daß ich auf die Frage keine Antwort zu geben weiß.«
»Mr. Lorry, betrachtet Euch den Gefangenen noch einmal.
Denkt Euch ihn so eingehüllt, wie jene beiden Reisenden waren – liegt in seinem Körperbau und in seiner Haltung etwas, was es unwahrscheinlich macht, daß er einer davon gewesen sein könnte?«
»Nein.«
»Wollt Ihr darauf schwören, daß er keiner von ihnen gewesen ist?«
»Nein.«
»Aber Ihr könnt wenigstens sagen, es sei möglich, daß er einer davon war?«
»Ja, mit Ausnahme des mir noch erinnerlichen Umstandes, daß jene Männer sich gleich mir sehr vor Straßenräubern fürchteten; der Gefangene sieht nicht furchtsam aus.«
»Habt Ihr schon ein Bild der Furchtsamkeit gesehen, Mr. Lorry?«
»Jawohl.«
»Mr. Lorry, betrachtet Euch noch einmal den Gefangenen. Könnt Ihr Euch nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben?«
»O doch.«
»Wann?«
»Ich kehrte einige Tage später von Frankreich zurück. Der Gefangene kam in Calais an Bord des Paketschiffes, das mich mit heimnahm, und machte mit mir die Reise.«
»Um welche Zeit kam er an Bord?«
»Ein wenig nach Mitternacht.«
»Bei totenstiller Nacht also. War er der einzige Passagier, der zu dieser ungewöhnlichen Stunde an Bord kam?«
»Er war zufällig der einzige.«
»Kümmert Euch nicht darum, ob es Zufall war oder nicht, Mr. Lorry. Er war also der einzige Passagier, der mitten in der Nacht an Bord kam?«
»Ja.«
»Reistet Ihr allein, Mr. Lorry, oder wart Ihr in Gesellschaft?«
»Ich hatte zwei Reisebegleiter, eine Dame und einen Herrn. Sie sind hier.«
»Sie sind hier. Habt Ihr mit dem Gefangenen Unterhaltung gepflogen?«
»Kaum. Wir hatten stürmisches Wetter, und während der langen Dauer der rauhen Überfahrt lag ich fast unausgesetzt auf dem Sofa.«
»Miß Manette!«
Die junge Dame, der sich jetzt, wie früher, alle Augen zuwendeten, stand von ihrem Sitze auf; ihr Vater, der ihre Hand mit seinem Arme unterstützt hielt, tat das gleiche.
»Miß Manette, betrachtet den Gefangenen.«
Die Gegenüberstellung mit der ernsten, schönen, von Mitleid ergriffenen Jungfrau wirkte auf den Angeschuldigten weit erschütternder als das Begafftwerden durch die Menge. Er stand gewissermaßen allein mit ihr am Rande seines Grabes, und all die Neugier der maulaufsperrenden Zuschauer vermochte ihn nicht so weit zu wappnen, daß er auch in jenem Augenblick ganz ruhig blieb. Seine Rechte teilte hastig die Kräuter vor ihm gleichsam in Gartenbeete ab, und die Anstrengung, die es ihn kostete, seinen Atem gleichmäßig zu erhalten, ließ seine Lippen beben, aus denen mit dem nach dem Herzen jagenden Blutstrom alle Farbe entwichen war. Die Schmeißfliegen summten wieder
Weitere Kostenlose Bücher