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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Augenweide, das unsterbliche Geschöpf, dem eine so entsetzliche Schlachtbank bevorstand, erregte die Sinne. Welchen Anstrich auch die verschiedenen Zuschauer je nach Kraft und Kunst ihrer Selbsttäuschung ihrem Interesse an dem Schauspiel geben mochten, seinem Wesen nach war es blutdürstig.
    Stille im Gerichtssaal! Charles Darnay hatte sich für ›nicht schuldig‹ gegen eine Anklage erklärt, die ihm mit unendlichem Wortgeklingel zur Last legte, er sei ein Verräter an unserem durchlauchtigsten, hochmächtigsten, erhabenen und so weiter Fürsten, unserm Herrn, dem König, weil er bei verschiedenen Gelegenheiten und auf unterschiedliche Weise dem französischen König Ludwig Beistand geleistet habe in seinen Kriegen gegen besagten unseren durchlauchtigsten, hochmächtigsten, erhabenen und so weiter; und zwar durch Ab- und Zugehen zwischen den Gebieten unseres besagten hochmächtigsten, erhabenen und so weiter und denen des besagten französischen Ludwig in der boshaften, falschen, verräterischen Absicht, dem besagten französischen Ludwig zu enthüllen, welche Streitkräfte unser besagter durchlauchtigster, hochmächtigster, erhabener und so weiter nach Kanada und Nordamerika zu senden sich anschicke. So viel wenigstens fand Jerry, dessen Kopf unter den juristischen Ausdrücken immer stachliger wurde, mit großer Befriedigung heraus, wie er denn auch auf Umwegen zu der Erkenntnis kam, daß der vorbesagte und aber- und abermals vorbesagte Charles Darnay hier vor Gericht stand, daß die
Jury vereidigt wurde und daß der Herr Staatsanwalt sich anschickte, seinen Vortrag zu halten. Der Angeschuldigte wußte recht wohl, daß er von jedem der Anwesenden im Geiste bereits als gehangen, enthauptet und gevierteilt betrachtet wurde; gleichwohl verzagte er nicht in seiner Lage und nahm ebensowenig ein theatralisches Wesen an. Er verhielt sich ruhig und aufmerksam, folgte dem Gang der Verhandlung mit ernster Teilnahme und stand, die Hände auf den Sims seines Verschlags gestützt, so gefaßt da, daß auch nicht ein Blättchen von den daraufliegenden Kräutern verrückt wurde. Durch den ganzen Gerichtssaal waren dergleichen medizinische Pflanzen, die man noch obendrein mit Essig besprengt hatte, als Schutzmittel gegen Gefängnisluft und ansteckende Krankheiten ausgestreut.
    Über dem Haupte des Gefangenen befand sich ein Spiegel, der das Licht auf ihn niederwarf. Scharen von Unglücklichen und Verworfenen haben sich schon darin gespiegelt und sind ebenso von seiner Fläche weg wie überhaupt von der Erde verschwunden. Der Gerichtssaal müßte zum entsetzlichsten Spukplatz werden, wenn jener Spiegel je die in ihm reflektierten Gestalten nach Art des Meeres, das eines Tages seine Toten wieder auswirft, zurückgeben könnte. Ein flüchtiger Gedanke an die Schmach und Entehrung, zu der dieser Spiegel diente, schien dem Angeklagten durch den Sinn zu gehen; denn als er bei einer zufälligen Veränderung seiner Stellung den Lichtschein über sich bemerkte, überflog beim Aufschauen sein Antlitz ein tiefes Rot, und seine Rechte schob die Kräuter beiseite.
    Bei dieser Bewegung drehte sich sein Gesicht zufällig nach links. Ungefähr in gleicher Höhe mit seinen Augen saßen in dem Winkel der Gerichtsbank zwei Personen, auf denen sein Auge alsbald haftenblieb. Dies geschah so plötzlich und mit
einer so merklichen Veränderung in seinem Wesen, daß alle bisher ihm zugewendeten Blicke ihm jetzt in dieser Richtung folgten.
    Die Zuschauer entdeckten in den beiden Personen ein junges Frauenzimmer von wenig mehr als zwanzig Jahren und einen Herrn, der unverkennbar ihr Vater war; dieser fiel namentlich auf durch das schneeige Weiß seiner Haare und durch einen gewissen unbeschreiblichen Ausdruck von Spannung in seinem Gesicht, der nicht irgendeiner Art von Aktivität, sondern einem in sich gekehrten Brüten zu entstammen schien. Wenn dieser Ausdruck auf ihm lagerte, so sah er sehr alt aus; wich er aber für einige Augenblicke, wie dies zum Beispiel eben jetzt geschah, als er mit seiner Tochter sprach, so hielt man ihn für einen schönen, noch in der Vollkraft des Lebens stehenden Mann.
    Die neben ihm sitzende Tochter hatte beide Hände auf seinen Arm gelegt und aus Furcht vor dem bevorstehenden Auftritt und in ihrem Mitleid für den Gefangenen sich dicht an ihn geschmiegt. Auf ihrer Stirn sprach sich ein tiefer Schmerz und eine Teilnahme aus, die für nichts weniger Sinn hatte als für die Gefahr, in der der Gefangene schwebte. Diese

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