Eine Geschichte aus zwei Städten
brachten Kunde von dieser Hast zu dem grauhaarigen Straßenarbeiter, der schon jenseits des Dorfes auf der Höhe an der Arbeit war und dessen Mittagsmahl – es war leicht genug; eine Krähe hätte es forttragen können – in einem Bündel auf dem Steinhaufen neben ihm lag? Hatten die Vögel einige Körnchen ins Weite getragen und nach ihrer Art eines über ihm niederfallen lassen? Sei dem, wie ihm wolle, der alte Arbeiter jagte an jenem frühen Morgen, als gelte es sein Leben, in knöcheltiefem Staube den Berg hinab und hielt nicht inne, bis er den Brunnen erreicht hatte.
Die ganze Dorfbewohnerschaft war um den Brunnen versammelt; sie stand in ihrer gedrückten Weise umher und flüsterte miteinander, zeigte aber keine andere Erregung als die einer mürrischen Neugier und Überraschung. Die Leitkühe, die man hastig hereingebracht und an den nächsten besten Haltepfählen angebunden hatte, guckten dumm zu oder leg
ten sich nieder und zerkauten nochmals das ärmliche Futter, das sie bei ihrem unterbrochenen Morgengang abgerupft hatten. Einige Leute aus dem Schloß, einige aus dem Posthaus und sämtliche Steuerbeamte waren mehr oder weniger bewaffnet und drängten sich auf der andern Seite der kleinen Straße zusammen. Der Straßenarbeiter war bereits in die Mitte einer Gruppe von fünfzig seiner Freunde gedrungen und schlug sich mit seiner blauen Mütze an die Brust. Was hatte alles dies zu bedeuten, und warum warf Monsieur Gabelle sich so hurtig hinter einem Bedienten aufs Pferd, um, das Tier doppelt belastend, im Galopp dahingetragen zu werden – gleichsam eine neue Auflage von Bürgers Lenore?
Es bedeutet, daß droben im Schloß ein steinernes Gesicht hinzugekommen war. Die Meduse hatte in der Nacht das Schloß wieder betrachtet und das noch fehlende steinerne Gesicht hinzugefügt – das steinerne Gesicht, auf das dieses Haus schon seit zweihundert Jahren gewartet hatte.
Es lag auf dem Kissen von Monsieur le Marquis. Es glich einer schönen Maske, die plötzlich aufgeschreckt, erzürnt und versteinert wurde. Im Herzen der damit in Verbindung stehenden steinernen Figur stak ein Messer. Um das Heft desselben war ein Papierstreifen gerollt und auf diesen gekritzelt:
›Schafft ihn schnell in sein Grab! Dies von Jacques. ‹
Zehntes Kapitel
Zwei Versprechen
Etwa zwölf Monate waren gekommen und vergangen, und Mr. Charles Darnay wirkte in England als höherer Lehrer der französischen Sprache und Literatur. In unseren Tagen würde man
ihn Professor genannt haben; damals war er eben Privatlehrer. Er hielt Jünglingen, die Zeit und Interesse für das Studium einer lebendigen Sprache hatten, die in der ganzen Welt gesprochen wurde, Vorlesungen und brachte ihnen Verständnis bei für die wissenschaftlichen und poetischen Werke der Franzosen; auch konnte er in gutem Englisch darüber schreiben und sie gut ins Englische übersetzen. Solche Lehrer waren in jener Zeit nicht häufig; denn gewesene Prinzen und künftige Könige hatten sich noch nicht dem Lehrfach zugewendet, wie denn auch noch kein zugrunde gerichteter Adel aus Tellsons Büchern gestrichen wurde, nachdem seine Mitglieder Köche oder Zimmerleute geworden waren. Der junge Mr. Darnay wurde bald als Lehrer, der seinen Schülern den Lehrstoff gut und angenehm beizubringen verstand, und als Übersetzer, der nicht nur mit einer Wörterbuchkenntnis arbeitete, bekannt und geschätzt. Er war außerdem ein gründlicher Kenner der Verhältnisse seines Vaterlandes, die immer interessanter wurden, und so gelang es ihm denn, sich durch seine Beharrlichkeit und seinen unermüdlichen Fleiß ein gutes Auskommen zu verschaffen.
Er hatte von London nicht erwartet, daß er auf einem Pflaster von Gold wandeln oder in einem Rosenbette ruhen dürfe, denn mit solchen hochfliegenden Erwartungen würde er es nie vorwärtsgebracht haben. Er war auf Arbeit gefaßt gewesen, die er fand und aufs beste leistete. So fand er sein Auskommen.
Einen gewissen Teil seiner Zeit verbrachte er in Cambridge, wo er den Studenten Vorlesungen hielt, als eine Art geduldeter Schmuggler, der einen Schleichhandel trieb mit europäischen Sprachen, statt durch das Zollhaus Griechisch und Lateinisch einzuführen; seine übrige Zeit verlebte er in London.
Nun ist von den Tagen an, als es immer Sommer in Eden
war, bis zu unseren meist winterlichen Tagen in weniger paradiesischen Breiten die Welt des Mannes unabänderlich denselben Weg gegangen, den auch Charles Darnay ging, den Weg der Liebe zu einem
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