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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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nehmen.«
    Der Doktor saß mit abgewendetem Gesicht da und hielt die Augen auf den Boden geheftet.
    Bei den letzten Worten streckte er hastig seine Hand wiederum aus und rief:
    »Nicht so, Herr, laßt das! Ich beschwöre Euch, ruft mir nicht das in die Erinnerung.«
    Sein Ausruf trug so unverkennbar den Charakter eines wah
ren Schmerzes, daß er Charles Darnay noch lange nachher in den Ohren klang. Er bewegte die ausgestreckte Hand und schien damit Darnay anzuflehen, daß er innehalten möchte. Wenigstens deutete sich dieser die Sache so und blieb still.
    »Ich bitte Euch um Verzeihung«, sagte der Doktor nach einer Weile in gedämpftem Ton. »Ich zweifle nicht daran, daß Ihr Lucie liebt. Dies mag Euch zufriedenstellen.«
    Er drehte sich auf seinem Sitze ihm zu, ohne ihn jedoch anzusehen oder die Augen zu ihm aufzuschlagen. Sein Kinn ruhte auf der unterstützenden Hand, und das weiße Haar überschattete sein Gesicht.
    »Habt Ihr mit Lucie gesprochen?«
    »Nein.«
    »Ihr geschrieben?«
    »Nie.«
    »Es wäre unedel, wenn ich mir den Anschein geben wollte, als fühlte ich nicht, daß Eure Selbstverleugnung in den Rücksichten auf ihren Vater begründet ist. Der Vater dankt Euch.«
    Er bot ihm seine Hand, aber seine Augen folgten ihr nicht.
    »Ich weiß –« sagte Darnay achtungsvoll, »wie sollte es mir, der ich Euch Tag für Tag zusammen gesehen habe, Doktor Manette, entgangen sein, daß zwischen Euch und Miß Manette eine so ungewöhnliche, so rührende und ganz ihrem eigenartigen Ursprung angemessene Zuneigung besteht, wie man sie selbst in der Zärtlichkeit zwischen einem Vater und einem Kinde nur selten findet. Ich weiß, Doktor Manette – wie sollte ich es nicht wissen –, daß ihr Herz Euch die volle Innigkeit und das Vertrauen des Kindes, gemischt mit der Liebe und dem Pflichtgefühl der zur Jungfrau herangewachsenen Tochter, bewahrt hat. Ich weiß, daß sie jetzt, nachdem ihre Kindheit den Vater entbehrt hat, sich Euch widmet mit der warmen Glut und Beständigkeit ihres reiferen Alters und Charak
ters, vereint mit der Zutraulichkeit und Liebe jener früheren Zeit, in der sie den Vater missen mußte. Ich weiß auch recht wohl, daß Ihr, wenn Ihr aus einer anderen Welt zu ihr zurückgekehrt wäret, in ihren Augen keine heiligere Glorie hättet tragen können, als die ist, in der sie Euch stets erblickt. Ich weiß, daß, wenn sie sich an Euch anklammert, die Arme des Kindes, der Jungfrau und des Weibes zumal Euren Nacken umfangen halten. Ich weiß, daß in ihrer Liebe zu Euch sie ihre Mutter sieht und liebt, wie diese in ihrem Alter war, daß sie Euch sieht und liebt als einen Mann in meinem Alter, daß sie die Mutter mit ihrem gebrochenen Herzen liebt und Euch liebend folgte durch Eure schrecklichen Prüfungen bis zu Eurer glücklichen Erlösung. Ich habe all dies in meinem Innern geschaut Tag und Nacht, seit ich Euch in Eurem Heimwesen kennenlernte.«
    Ihr Vater saß stumm da, das Antlitz niedergebeugt. Sein Atem ging ein wenig schneller, aber er unterdrückte alle weiteren Zeichen der Erregung.
    »Mein teurer Doktor Manette, ich wußte das immer, sah sie und Euch stets in diesem Lichte und habe deshalb an mich gehalten – an mich gehalten, solange die Mannesnatur es vermochte. Ich fühlte, und fühle es auch jetzt, daß das Einmengen einer Liebe – der meinigen sogar – als eine Berührung Eurer Geschichte mit etwas Unheiligem erscheint. Aber ich liebe sie. Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich sie liebe.«
    »Ich glaube es«, entgegnete ihr Vater traurig. »Ich habe es mir schon früher gedacht. Ich glaube es.«
    »Aber glaubt ja nicht«, sagte Darnay, an dessen Ohr der wehmütige Ton der Stimme wie ein Vorwurf schlug, »daß es mir nicht Ernst sein könnte mit dem, was ich jetzt sage, wenn in dem für mich überglücklichen Falle, daß sie mein Weib werden wollte, nur entfernt an eine Trennung zwischen ihr und
Euch gedacht werden müßte. Abgesehen davon, daß ich weiß, wie wenig Hoffnung mir dann bliebe, würde mir das als ganz verwerflich erscheinen. Wenn der Gedanke an eine solche Möglichkeit, selbst für noch so ferne Zeit, je in dem verborgensten Winkel meines Herzens geweilt hätte oder darin überhaupt Eingang zu finden vermöchte, so könnte ich nicht jetzt diese verehrte Hand berühren.«
    Und er legte bei diesen Worten die seinige auf die des Doktors.
    »Nein, mein teurer Doktor Manette. Wie Ihr ein freiwilliger Verbannter aus Frankreich; wie Ihr aus der Heimat vertrieben durch ihre

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