Eine Geschichte aus zwei Städten
Zerrüttung, ihre Bedrückung und ihr Elend; wie Ihr Unterhalt und glücklichere Zukunft von der eigenen Anstrengung erwartend, sehne ich mich nur danach, Eurem Glücksstern zu folgen, Leben und Haus mit Euch zu teilen und Euch treu zu sein bis in den Tod. Ich will Lucie von ihrem Vorrecht, Euer Kind, Eure Gefährtin und Freundin zu sein, nichts entziehen; aber zu Hilfe kommen möchte ich ihr dabei und sie noch inniger an Euch binden, wenn das möglich ist.«
Seine Hand ruhte noch immer auf der ihres Vaters. Nachdem der Doktor für einen Augenblick, aber nicht kalt, die Berührung erwidert hatte, stützte er die Hände auf die Stuhllehne und blickte zum ersten Mal seit dem Beginn der Besprechung auf. In seinem Gesicht zeigte sich ein Kampf – ein Kampf, begleitet von jenem Ausdruck, der gelegentlich so leicht in düsteren Zweifel und Furcht überging.
»Ihr sprecht so gefühlvoll und männlich, Charles Darnay, daß ich Euch aus voller Seele danke und auch Euch mein ganzes Herz, oder doch fast mein ganzes Herz, aufschließen will. Habt Ihr Grund, zu glauben, daß Lucie Euch liebt?«
»Nein. Bis jetzt nicht.«
»Ist es der unmittelbare Zweck dieser vertraulichen Aussprache, darüber mit meinem Vorwissen Sicherheit zu erhalten?«
»Nicht gerade. Ich erwarte das vor Wochen noch nicht zu erfahren, obschon ich meine Hoffnung, sei sie nun begründet oder nicht, mir bewahren möchte.«
»Verlangt Ihr Beistand von mir?«
»Nein, Sir, obschon ich es für möglich gehalten habe, es dürfte in Eurer Macht liegen, mich zu leiten, wenn es Euch passend erscheinen sollte.«
»So erwartet Ihr wohl eine Zusage?«
»Ja.«
»Welcher Art?«
»Ich begreife wohl, daß ich ohne Euch keine Hoffnung haben kann. Auch ist mir klar, daß ich in Miß Manettes unschuldigem Herzen, selbst wenn sie mein Bild darin trüge, obschon ich nicht so anmaßend bin, das zu vermuten, keinen Platz zu behaupten vermöchte im Widerspruch mit ihrer Liebe zu ihrem Vater.«
»Wenn das so ist, erkennt Ihr wohl, was auf der anderen Seite daraus folgt?«
»Ich begreife nicht minder, daß ein Wort aus dem Munde ihres Vaters zugunsten eines Bewerbers bei ihr mehr Gewicht hätte als die ganze übrige Welt. Aus diesem Grunde, Doktor Manette«, fügte Darnay bescheiden, aber mit Festigkeit hinzu, »möchte ich um dieses Wort nicht bitten, und wenn mein Leben daran hinge.«
»Ich traue Euch das zu, Charles Darnay. Geheimnisse entstehen aus inniger Liebe ebensogut wie aus großer Entfremdung; im ersten Falle sind sie zart und verfänglich und schwer zu ergründen. Meine Tochter Lucie ist in dieser Beziehung ein solches Geheimnis für mich; ich habe keine Vermutung über den Zustand ihres Herzens.«
»Darf ich fragen, Sir, ob Ihr glaubt, es …«
Da er zögerte, so ergänzte ihr Vater den Satz.
»… es bemühe sich ein anderer Freier um sie?«
»Das ist's, was ich sagen wollte.«
Nach einigem Nachdenken erwiderte der Doktor:
»Ihr habt Mr. Carton selbst hier gesehen. Auch Mr. Stryver kommt gelegentlich her. Wenn es der Fall wäre, so könnte nur einer von diesen zweien in Frage kommen.«
»Oder beide«, sagte Darnay.
»Ich hatte an beide nicht gedacht und halte es auch nicht für wahrscheinlich. Ihr verlangt eine Zusage von mir. Sprecht, worin soll sie bestehen?«
»Wenn Miß Manette je aus freien Stücken sich mit einem ähnlichen Vertrauen an Euch wendet, wie ich es heute zu tun gewagt habe, so bitte ich Euch, mir meine heutigen Worte und Euren Glauben daran zu bezeugen. Ich hoffe, Ihr habt eine so gute Meinung von mir, daß Ihr Euren Einfluß nicht gegen mich geltend machen werdet, und will daher nichts mehr zu meinen Gunsten sagen. Um dies allein bitte ich; Ihr habt ein unbezweifeltes Recht, mir eine Gegenbedingung zu stellen, und ich werde sie unverweilt erfüllen.«
»Ihr habt mein Versprechen ohne Bedingung«, sagte der Doktor. »Ich glaube, daß Eure Absichten so rein und treu sind, wie Ihr sie darstellt. Auch glaube ich, daß Ihr das Band zwischen mir und meinem anderen mir viel teureren Ich erhalten und nicht geschwächt zu sehen wünscht. Wenn sie mir einmal erklärt, daß Ihr ein wesentliches Erfordernis seid zu ihrem vollkommenen Glück, so werde ich sie Euch nicht versagen. Sollten auch, Charles Darnay …«
Der junge Mann hatte dankbar seine Hand ergriffen. Ihre Hände waren vereinigt, während der Doktor fortfuhr –
»… sollten auch Meinungen, Gründe oder Besorgnisse ir
gendwelcher Art, aus alter oder neuer Zeit, gegen den Mann
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