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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Weibe.
    Er hatte Lucie Manette geliebt von der Stunde seiner Gefahr an. Nie war ihm ein Ton so süß vorgekommen wie der ihrer mitleidvollen Stimme; nie hatte er ein so zartes Gesicht gesehen wie das ihrige, als sie ihm gegenüberstand an dem Grabe, das für ihn bereits offen dalag. Doch hatte er ihr noch nie von seinen Gefühlen gesprochen. Der Mord in dem verlassenen Schlosse weit weg jenseits der wogenden Wellen und der langen, langen staubigen Straßen – in dem steinernen Schloß, das selbst zu einem bloßen nebligen Traum geworden – hatte vor einem Jahre stattgefunden, er aber bis jetzt nie, auch nicht durch eine Silbe, ihr den Zustand seines Herzens offenbart.
    Daß er sich nicht ohne gute Gründe dessen enthielt, wußte er. Es war wieder ein Sommertag, als er, von seiner Beschäftigung am College spät in London angelangt, nach dem stillen Winkel in Soho einbog mit der Absicht, eine Gelegenheit herbeizuführen, um Doktor Manette sein Inneres aufzuschließen. Es war abends um die Zeit, von der er wußte, daß sich Lucie mit Miß Proß außer Haus befand.
    Der Doktor saß eben lesend in seinem Armstuhl am Fenster. Er war allmählich wieder in den Besitz der Tatkraft gelangt, die ihn in seinen früheren Leiden aufrechterhalten, aber auch diese um so schmerzlicher für ihn gemacht hatte. Man konnte ihn jetzt einen sehr tüchtigen Mann mit ehernem Willen und fester Ausdauer nennen. In seiner wiedergewonnenen Energie zeigte sich jedoch bisweilen etwas Unstetes, Raschaufzuckendes, wie sich dies am Anfang auch bei seinen anderen wiedererwachenden Fähigkeiten kundgetan hatte; allerdings
bemerkte man es nicht oft, und in letzter Zeit war es immer seltener und seltener geworden.
    Er studierte viel, schlief wenig, konnte große Anstrengung mit Leichtigkeit ertragen und war dabei heiter und zufrieden. Als Charles Darnay bei ihm eintrat, legte er sein Buch beiseite und bot ihm die Hand.
    »Charles Darnay! Ich freue mich, Euch zu sehen. Wir haben Euch schon vor drei oder vier Tagen zurückerwartet. Mr. Stryver und Sydney Carton waren gestern hier, und beide erklärten, daß Ihr zu lange fortbliebt.«
    »Ich bin ihnen sehr verbunden für ihr Interesse an der Sache«, versetzte er mit einiger Kälte für die Genannten, aber mit desto mehr Wärme gegen den Doktor. »Miß Manette …«
    »Ist wohl«, sagte der Doktor, ihm ins Wort fallend, »und Eure Rückkehr wird uns allen Freude machen. Sie ist in Haushaltsangelegenheiten ausgegangen, wird aber bald wieder hier sein.«
    »Doktor Manette, ich weiß, daß sie abwesend ist, und wollte diese Gelegenheit benutzen, mit Euch zu sprechen.«
    Es folgte ein Schweigen der Verlegenheit.
    »Ja?« versetzte endlich der Doktor mit sichtlichem Zwange. »So bringt Euren Stuhl her und redet.«
    Mr. Darnay gehorchte, soweit der Stuhl in Frage kam, schien aber das Reden weniger leicht zu finden.
    »Ich habe seit anderthalb Jahren das Glück gehabt, Doktor Manette«, begann er schließlich, »hier so vertraut angesehen zu werden, daß ich hoffe, der Gegenstand, der mir so sehr am Herzen liegt, werde …«
    Er schwieg, denn der Doktor streckte seine Hand aus, um ihm Einhalt zu tun. Nachdem dieser eine Weile in seiner Gebärde verharrt und dann die Hand wieder zurückgezogen hatte, fragte er:
    »Handelt es sich um Lucie?«
    »Ja.«
    »Es kommt mir zu jeder Zeit schwer an, über sie zu sprechen; besonders schmerzlich aber wird mir's, wenn ich von ihr reden hören soll in dem Ton, dessen Ihr Euch eben bedientet, Charles Darnay.«
    »Es ist der Ton heißer Verehrung, treuer Huldigung und wahrer Liebe, Doktor Manette«, versetzte der andere ehrerbietig.
    Abermals eine Pause der Verlegenheit, ehe der Doktor erwiderte: »Ich glaube es. Ich lasse Euch Gerechtigkeit widerfahren; ich glaube es.«
    Seine Gezwungenheit war so augenfällig, und man sah so klar, wie sie aus der Abneigung, diesen Gegenstand zu berühren, hervorging, daß Charles Darnay zögerte.
    »Soll ich fortfahren, Sir?«
    Abermalige Pause.
    »Ja; fahrt fort.«
    »Ihr werdet Euch wohl denken, was ich sagen will, obgleich Ihr nicht wissen könnt, mit welchem Ernst ich es sage und wie tief ich es fühle, wenn Ihr nicht mein innerstes Herz und die Hoffnungen und Befürchtungen kennt, mit denen es sich schon so lange trägt. Mein teurer Doktor Manette, ich liebe Eure Tochter warm, innig, uneigennützig und hingebend. Wenn es je Liebe in der Welt gab, so liebe ich sie. Ihr habt selbst geliebt; laßt Eure alte Liebe für mich das Wort

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