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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Euch?«
    »Die Worte, die ich brauchte, haben nicht den Sinn, als ob ich Anspruch darauf erhöbe. Wenn es morgen von Euch auf mich überginge …«
    »Ich bin so kühn, zu hoffen, daß dies nicht wahrscheinlich ist.«
    »Oder in zwanzig Jahren erst …«
    »Ihr erweist mir zu viel Ehre«, sagte der Marquis; »doch gefällt mir diese Annahme besser.«
    »… so würde ich ihm entsagen und mich irgendwo anders durchzubringen suchen. Der Verzicht würde mir nicht schwer. Was ist es auch anderes als eine Wildnis voll Elend und Ruin?«
    »Ha!« sagte der Marquis, in dem prunkvollen Zimmer umherschauend.
    »Hier macht es sich wohl schön genug für das Auge; aber als Ganzes unter freiem Himmel und im Lichte des Tages betrachtet, ist es ein zusammenbröckelnder Bau von Verschwendung, schlechter Verwaltung, Erpressung, Schulden, Verpfändung, Druck, Hunger, Blöße und Leiden.«
    »Ha!« wiederholte der Marquis mit selbstzufriedener Miene.
    »Wenn es je mein wird, so soll es in Hände kommen, die bes
ser geeignet sind, es – wenn dies je möglich ist – allmählich von dem Druck zu befreien, der darauf lastet. Die nächste Generation des unglücklichen Volkes, das an die Scholle geheftet ist und erduldet hat, was man nur erdulden kann, hat es dann vielleicht besser. Ich vermag nichts; denn es liegt ein Fluch darauf wie auf dem ganzen Lande.«
    »Und Ihr?« sagte der Onkel. »Verzeiht mir meine Neugierde – hofft Ihr bei Eurer neuen Philosophie auch standesgemäß leben zu können?«
    »Ich werde tun, was andere meiner Landsleute, vielleicht der höchste Adel darunter, auch werden tun müssen – arbeiten.«
    »In England zum Beispiel?«
    »Ja. In diesem Lande ist die Familienehre sicher vor mir. Der Familienname kann durch mich nicht zu Schaden kommen, denn ich führe dort einen andern.«
    Auf den Ruf der Klingel waren in dem anstoßenden Schlafzimmer die Lichter angezündet worden, deren Helle durch die Verbindungstür hereindrang. Der Marquis schaute in diese Richtung und hörte auf den Tritt des sich entfernenden Kammerdieners.
    »Ich habe bereits gesagt, daß ich fühle, wie sehr ich Euch für mein dortiges Fortkommen verpflichtet bin. Im übrigen ist es ein Asyl für mich.«
    »Die prahlerischen Engländer sagen, es sei ein Asyl für viele. Ihr kennt einen Landsmann, der dort auch ein Asyl gefunden hat – einen Doktor?«
    »Ja.«
    »Mit einer Tochter?«
    »Ja.«
    »Ja«, sagte der Marquis. »Ihr seid müde. Gute Nacht!«
    Während er in der höflichsten Weise das Haupt neigte, lag in seinem lächelnden Gesicht ein Heimlichtun, und er legte
auch in seine Worte den Ausdruck des Geheimnisses, so daß die Augen und Ohren seines Neffen notwendig Notiz davon nehmen mußten. Zu gleicher Zeit krümmten sich die feinen geraden Linien der Augenlider, die dünnen geraden Lippen und die Marken der Nase mit einem Sarkasmus, der das Gesicht eigentlich teuflisch schön erscheinen ließ.
    »Ja«, wiederholte der Marquis. »Ein Doktor mit einer Tochter. Ja, so beginnt die neue Philosophie! Ihr seid müde. Gute Nacht!« Es würde ebensoviel genutzt haben, eines der steinernen Gesichter außerhalb des Schlosses zu fragen, als in dem seinen Auskunft zu suchen. Der Neffe forschte vergeblich darin, als er sich zur Tür wandte.
    »Gute Nacht!« sagte der Onkel. »Ich habe das Vergnügen, Euch morgen früh wiederzusehen. Angenehme Ruhe! Leuchtet meinem Herrn Neffen nach seinem Zimmer! – Und verbrennt meinetwegen meinen Herrn Neffen in seinem Bett«, sagte er vor sich hin, ehe er abermals die Klingel rührte und damit den Kammerdiener in sein Schlafgemach befahl.
    Der Kammerdiener kam und ging. Monsieur le Marquis spazierte in seinem weiten Schlafrock auf und ab, um sich in der heißen, stillen Nacht allmählich für den Schlaf vorzubereiten. Seine weichen Pantoffeln machten, während er umherwandelte, kein Geräusch auf dem Boden; er bewegte sich dahin wie ein veredelter Tiger und nahm sich dabei aus wie irgendein verzauberter Marquis von der schlechten, reuelosen Art im Märchen, der eben seine periodische Umwandlung in die Gestalt eines Tigers antreten will oder beendigt hat.
    Er durchschritt sein üppiges Schlafgemach von einem Ende bis zum andern und beschäftigte sich mit den Eindrücken seiner heutigen Reise, die ungebeten sich seinem Geiste vergegenwärtigten – mit dem langsamen Berganfahren abends, mit der untergehenden Sonne, dem Hinabfahren, der Mühle, dem
Gefängnis auf dem Felsen, dem Dörflein im Tal, den Bauern am

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