Eine Geschichte aus zwei Städten
Onkel. »Verabscheuung der Hochgestellten ist die unwillkürliche Huldigung der Niedrigen.«
»In der ganzen Gegend ringsumher«, fuhr der Neffe in dem früheren Tone fort, »gibt es kein Gesicht, das mit Achtung zu mir aufblickt; ich begegne in den Mienen nur dem finstern Ausdruck der Furcht und der Sklaverei.«
»Ein Kompliment für die Größe der Familie«, sagte der Mar
quis, »verdient durch die Art, wie die Familie ihre Größe gewahrt hat. Ha!«
Und er nahm wieder eine ganz kleine Prise und legte leicht die Beine übereinander. Aber als der Neffe, einen Ellenbogen auf den Tisch gestützt, gedankenvoll und niedergeschlagen die Augen mit der Hand bedeckte, schaute die schöne Maske seitwärts mit einer stärkeren Konzentration von Strenge, Verschlossenheit und Abneigung nach ihm hin, als sich mit der vorgeschützten Gleichgültigkeit ihres Trägers vereinbaren ließ.
»Zwang ist die einzige wirksame Methode«, bemerkte der Marquis. »Der finstere Ausdruck der Furcht und Sklaverei, mein Freund, macht, daß diese Hunde der Peitsche gehorsam bleiben, solange dieses Dach« – er sah danach aufwärts – »den Himmel ausschließt.«
Das dauerte vielleicht nicht so lange, wie der Marquis meinte. Hätte man ihm in jener Nacht ein Bild seines Schlosses zeigen können, wie es einige Jahre später aussah und wie fünfzig ähnliche Schlösser gleichfalls nach der kurzen Frist von einigen Jahren aussahen, so würde er wohl in den gespenstischen, verkohlten, ausgeraubten Trümmern sein Eigentum nicht wiedererkannt haben. Und was das gerühmte Dach betraf, so hätte er wohl gefunden, daß es in einer neuen Art den Himmel ausschloß, nämlich für immer vor den Blicken der Körper, die mit seinem Blei durchschossen wurden aus den Läufen von hunderttausend Musketen.
»Inzwischen«, sagte der Marquis, »werde ich für die Ehre und Ruhe der Familie sorgen, wenn Ihr's nicht tun wollt. Doch Ihr werdet müde sein. Wollen wir die Unterhaltung für heute abbrechen?«
»Nur noch einen Augenblick.«
»Eine Stunde, wenn's beliebt.«
»Wir haben Unrecht getan«, versetzte der Neffe, »und ernten jetzt die Früchte unseres Unrechts.«
»Wir haben Unrecht getan?« fragte der Marquis lächelnd, indem er zuerst auf seinen Neffen, dann auf sich deutete.
»Unsere Familie, unsere ehrenwerte Familie, deren Ehre uns beiden in so verschiedener Weise am Herzen liegt. Sogar zu meines Vaters Zeit übten wir eine Welt voll Unrecht und schädigten jedes menschliche Wesen, wer es auch sein mochte, das uns in unserem willkürlichen Treiben störte. Doch warum spreche ich von der Zeit meines Vaters, da sie auch die Eurige ist? Kann ich meines Vaters Zwillingsbruder, Miterben und nächsten Nachfolger von ihm selbst trennen?«
»Der Tod hat es getan«, sagte der Marquis.
»Und mich hat er an ein System gefesselt«, erwiderte der Neffe, »das mir schrecklich ist wegen meiner Ohnmacht und meiner Verantwortlichkeit. Ich suchte die letzte Bitte von den Lippen meiner teuern Mutter zu erfüllen und dem letzten Blick aus ihren lieben Augen zu gehorchen, die mir flehentlich Erbarmen und Güte anempfahlen. Vergeblich marterte ich mich ab, Macht dazu und Beistand zu gewinnen.«
»Wenn Ihr die bei mir sucht, mein Neffe«, sagte der Marquis, indem er mit seinem Zeigefinger dessen Brust berührte – sie standen jetzt am Kamin –, »so seid versichert, daß Eure Mühe stets vergeblich sein wird.«
Jede feine gerade Linie in dem klaren Weiß seines Gesichts war grausam, verschmitzt und unheimlich zusammengezogen, während er so, die Tabakdose in der Hand, seinem Neffen gegenüberstand. Und abermals berührte er dessen Brust, als sei sein Finger die feine Spitze eines Dolches, die er mit aller Höflichkeit ihm ins Herz zu drücken Lust hatte.
»Mein Freund«, sagte er, »ich werde das System, in dem ich gelebt habe, befolgen, bis ich tot bin.«
Nach diesen Worten nahm er eine letzte Prise und steckte die Dose in seine Tasche.
»Besser, ein vernünftiges Wesen zu sein«, fügte er hinzu, nachdem er die kleine Klingel auf dem Tisch gerührt hatte, »und sich in seine natürliche Bestimmung zu fügen. Aber ich sehe, Ihr seid verloren, Monsieur Charles.«
»Diese Besitzungen und Frankreich sind allerdings für mich verloren«, sagte der Neffe traurig. »Ich verzichte darauf.«
»Gehört beides Euch, daß Ihr darauf verzichten könnt? Auf Frankreich meinetwegen, aber auf diese Besitzungen? Es ist kaum des Erwähnens wert, aber gehören sie schon
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