Eine Geschichte aus zwei Städten
ihr zu gehen?« erwiderte Mr. Lorry.
»Geradewegs!« sagte Stryver mit einem Faustschlag auf das Pult.
»Das täte ich nicht, wenn ich an Eurer Stelle wäre.«
»Warum nicht?« fragte Stryver. »Ich habe Euch in der Klemme«, fügte er bei, wie bei Gericht den Zeigefinger erhebend. »Ihr seid ein Geschäftsmann und müßt als solcher Gründe anzugeben wissen. Nennt mir Euren Grund. Warum würdet Ihr nicht hingehen?«
»Weil ich einen solchen Schritt nicht tun würde«, versetzte Mr. Lorry, »wenn ich nicht Anhaltspunkte für die Vermutung hätte, daß meine Werbung erfolgreich sein könnte.«
»Hol mich der Henker, das überbietet alles!« rief Stryver.
Mr. Lorry blickte zuerst nach dem fernen ›Haus‹ hin und dann auf den beleidigten Stryver.
»Sitzt da ein Geschäftsmann – ein Mann von Jahren – ein Mann von Erfahrung – sitzt in einer Bank«, sagte Stryver, »und nachdem ich ihm die drei Hauptgründe für den besten Erfolg namhaft gemacht habe, fragt er nach den Anhaltspunkten dafür! Fragt danach und hat doch den Kopf zwischen den Schultern!«
Mr. Stryver betonte diese Eigentümlichkeit mit einem Nachdruck, als wäre die Frage unendlich weniger merkwürdig gewesen, wenn dem Frager der Kopf zu Füßen gelegen hätte.
»Wenn ich von Erfolg spreche, so habe ich den Erfolg bei der jungen Dame im Auge, und wenn ich von Gründen und
Anhaltspunkten rede, so meine ich damit solche, die auf die junge Dame Eindruck machen. Die junge Dame, mein guter Herr«, sagte Mr. Lorry, Stryver sanft auf den Arm klopfend, »die junge Dame. Die junge Dame ist die Hauptsache.«
»Ihr wollt mir also zu verstehen geben, Mr. Lorry«, entgegnete Stryver, sich mit den Ellenbogen breit machend, »daß Ihr von der fraglichen Dame die wohlerwogene Meinung hegt, sie sei eine zimperliche Närrin?«
»Das nicht gerade. Auch möchte ich Euch erklären, Mr. Stryver«, sagte Mr. Lorry errötend, »daß ich von niemand, wer es auch sei, ein achtungswidriges Wort über diese junge Dame anhören will. Und wenn mir ein Mann bekannt wäre – ich hoffe, es ist nie der Fall – von so roher Gesittung und so anmaßendem Charakter, daß er sich nicht zu enthalten vermöchte, an diesem Pulte achtungswidrig von dieser jungen Dame zu sprechen, so sollten nicht einmal Tellsons mich hindern, ihm tüchtig meine Meinung zu sagen.«
Die Notwendigkeit, seinem Unmut nur in gedämpftem Tone Luft zu machen, hatte Mr. Stryvers Blutgefäße, als er sich ärgerte, in einen gefährlichen Zustand versetzt, aber auch mit Mr. Lorrys Adern, in denen das Blut sonst ruhig floß, stand es nicht anders, als es warm wurde.
»Das ist's, was ich Euch sagen wollte, Sir«, sagte Mr. Lorry. »Es ist mir lieb, wenn Ihr mich verstanden habt.«
Mr. Stryver saugte eine Weile an dem Ende eines Lineals und zischte dann durch die Zähne eine Arie, die ihm wahrscheinlich Zahnweh machte. Endlich unterbrach er das peinliche Schweigen durch die Worte:
»Dies ist mir etwas Neues, Mr. Lorry. Ihr ratet mir also mit Bedacht, nicht nach Soho zu gehen und meine Hand anzubieten – die Hand Stryvers, eines Advokaten am höchsten Gericht?«
»Ihr wünscht meinen Rat zu hören, Mr. Stryver?«
»Ja.«
»Sehr gut. Ihr sollt ihn haben. Meine Meinung ist von Euch vollkommen richtig gedeutet worden.«
»Dann kann ich weiter nichts sagen«, entgegnete Stryver mit einem erkünstelten Lachen, »als daß dies alles überbietet – haha! –, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.«
»Versteht mich wohl«, fuhr Mr. Lorry fort. »Als Geschäftsmann steht mir keine Befugnis zu, etwas über diese Angelegenheit zu sagen, denn als Geschäftsmann weiß ich nichts von ihr. Aber ich habe gesprochen als ein alter Mann, der Miß Manette auf seinen Armen getragen hat, und als ein treuer Freund des Hauses, der mit ganzer Seele an Miß Manette und ihrem Vater hängt. Ihr werdet Euch erinnern, daß ich Euer Vertrauen nicht gesucht habe. Meint Ihr nicht, daß ich recht haben könnte?«
»Gewiß nicht«, versetzte Stryver pfeifend. »Doch freilich, wer kann bei Dritten für gesunden Menschenverstand einstehen? Nur selbst ist der Mann. Ich vermute diesen gesunden Verstand bei gewissen Leuten, Ihr aber traut ihnen kleinbürgerliche Albernheit zu. 's ist mir neu – aber vielleicht habt Ihr recht.«
»Was ich vermute, Mr. Stryver, wünsche ich selbst auszusprechen. Und versteht mich wohl, Sir«, fügt Mr. Lorry abermals errötend bei, »ich dulde nicht – selbst hier bei Tellsons nicht –, daß
Weitere Kostenlose Bücher