Eine Geschichte aus zwei Städten
irgend jemand meine Worte nach seinem Sinn verdreht.«
»Ah, ich bitte um Verzeihung«, sagte Stryver.
»Schon gut; ich danke Euch. Aber was ich noch bemerken wollte, Mr. Stryver – es könnte Euch peinlich sein, wenn Ihr finden müßtet, daß Ihr im Irrtum gewesen; ebenso peinlich
dürfte Doktor Manette die Aufgabe sein, gegen Euch rundheraus zu sprechen; und am allerpeinlichsten möchte wohl Miß Manette eine offene Erklärung werden. Ihr wißt, daß ich so glücklich bin, mich der Ehre eines vertrauten Umgangs mit der Familie zu erfreuen. Wenn's Euch genehm ist – Ihr sollt dabei gar nicht zur Sprache kommen und in keiner Weise kompromittiert werden –, so will ich es auf mich nehmen, meine Meinung nachzuprüfen, indem ich in dieser Richtung einige Beobachtungen anstelle. Solltet Ihr mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein, so steht es Euch immer noch frei, selbst zu untersuchen, ob ich richtig gesehen habe; seid Ihr aber damit zufrieden – mag es nun auslaufen, wie es will –, so bleibt beiden Teilen erspart, was man sich gern ersparen möchte. Was sagt Ihr dazu?«
»Wie lange müßte ich dann noch in London bleiben?«
»Oh, es handelt sich nur um einige Stunden. Ich kann heute abend nach Soho gehen und Euch dann in Eurer Wohnung aufsuchen.«
»Dann sag ich ja«, versetzte Stryver. »Jetzt möcht ich doch nicht hin, denn wenn's vielleicht so steht, so bin ich nicht mehr so erpicht auf die Sache. Ich sage ja und erwarte Euch heute abend. Guten Morgen.«
Dann wandte sich Mr. Stryver und stürmte durch die Bank hinaus, so daß die zwei alten Kontoristen sich mit aller Macht hinter ihren Schreibpulten halten mußten, um von dem Luftstrom nicht umgeblasen zu werden. Das Publikum sah diese ehrwürdigen, schwächlichen Gestalten stets im Zustand der Verbeugung, und man glaubte allgemein, wenn sie einen Kunden hinauskomplimentiert hätten, führen sie in dem leeren Büro mit ihren Bücklingen fort, um gleich für einen anderen Ankömmling bereit zu sein.
Der Advokat war schlau genug, zu ahnen, daß der Bankier
im Ausdruck seiner Meinung nicht so weit gegangen wäre, wenn ihn nicht eine sichere Überzeugung dabei geleitet hätte. Obschon er nicht auf das Schlucken einer so großen Pille vorbereitet gewesen, würgte er sie dennoch hinunter. »Und nun«, sagte Mr. Stryver, als er sie endlich unten hatte, indem er mit seinem richterlich erhobenen Zeigefinger nach dem Temple im allgemeinen hin drohte, »werde ich mich am besten aus der Sache herauswinden, wenn ich euch alle auf den Holzweg bringe.«
Das war ein Stückchen von der Kunst eines Old-Bailey-Taktikers, und er fand in diesem Gedanken eine große Erleichterung. »Du sollst mich nicht durch einen Korb blamieren, junges Frauenzimmer«, sagte Mr. Stryver. »Dafür will ich sorgen.«
Als daher Mr. Lorry spätabends gegen zehn Uhr bei Mr. Stryver vorsprach, stak dieser in einer Menge von absichtlich umhergestreuten Büchern und Akten und schien den Gegenstand vom Morgen ganz vergessen zu haben. Er tat sogar erstaunt über Mr. Lorrys Besuch und benahm sich überhaupt zerstreut und wie ein Mann, der sich im Drange seiner Geschäfte kaum zu helfen weiß.
»Nun«, sagte der gutmütige Vermittler, nachdem er eine volle halbe Stunde vergeblich versucht hatte, dem verfänglichen Punkte beizukommen, »ich bin in Soho gewesen.«
»In Soho?« wiederholte Mr. Stryver kalt. »Ah, freilich – ich bin ganz in Gedanken!«
»Und es ist mir jetzt nicht mehr zweifelhaft«, fuhr Mr. Lorry fort, »daß ich in unserer kürzlichen Unterhaltung recht hatte. Meine Ansicht hat sich bestätigt, und ich wiederhole meinen Rat.«
»Ich versichere Euch«, versetzte Mr. Stryver in der freundlichsten Weise, »daß mir das leid tut um Euret- und um des
armen Vaters willen. Ich weiß, es muß immer ein peinlicher Gegenstand sein für die Familie; sprechen wir daher lieber nicht mehr davon.«
»Ich verstehe Euch nicht«, sagte Mr. Lorry.
»Kann mir's denken«, entgegnete Mr. Stryver, indem er sanft und abschließend mit dem Kopf nickte; »doch es liegt nichts daran.«
»Aber doch, es liegt etwas daran«, widersprach Mr. Lorry.
»Nein, ich versichere Euch, es liegt nichts daran. Wenn ich Verstand suchte, wo keiner ist, und einen löblichen Ehrgeiz voraussetzte, wo dieser fehlt, so war ich eben in einem Irrtum, über den ich mich jetzt erhaben fühle; das hat nichts geschadet. Junge Frauenzimmer haben schon oft ähnliche Torheiten begangen und sie später in Armut und Dunkelheit bereuen
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