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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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beiderlei Geschlechts berauschte sich der Steinklopfer in vollen Zügen bis zur Trunkenheit, so daß er, als hätte er nie von der damaligen Allgegenwart der Jacques gehört, aus Leibeskräften rief: »Lang lebe der König! Lang lebe die Königin! Lang lebe alles und jedermann!« Dann kamen die Gärten, die Hofräume, Terrassen, Fontänen, Rasenplätze, wieder König und Königin, abermals glänzende Trabanten, noch mehr ›Lang leben sie alle!‹, bis er geradezu weinte vor Rührung. Während dieses ganzen Schauspiels, das etwa drei Stunden dauerte, hatte er im Schreien, Weinen und Gerührtsein viele Kameraden, und Defarge hielt ihn die ganze Zeit über am Kragen, als wolle er ihn abhalten, auf die Gegenstände seiner plötzlichen Verehrung loszustürzen und sie in Stücke zu reißen.
    »Bravo!« sagte Defarge und klopfte ihm nach dem Schluß der Szene mit Gönnermiene auf den Rücken; »Ihr seid ein guter Bursch.«
    Der Mann vom Lande kam nun wieder zu sich und kraute sich bedenklich den Kopf, ob er nicht mit seinen letzten Demonstrationen einen Fehlgriff getan habe. Doch nein.
    »Ihr seid ein Kerl, wie wir ihn brauchen«, flüsterte ihm Defarge ins Ohr. »Ihr laßt diese Toren glauben, daß es immer weiter so gehen werde. Das macht sie um so unverschämter und führt desto schneller ihr Ende herbei.«
    »Das ist wahr«, entgegnete der Straßenarbeiter nachdenklich.
    »Das Narrenvolk weiß nichts. Während sie den Atem in Euch und Hunderten Euresgleichen geringer anschlagen als den ihrer Pferde und Hunde und ihm gern für alle Zeiten den Garaus machen möchten, erfahren sie doch nur, was dieser Atem ihnen sagt. Mögen sie immerhin noch eine Weile in ihrer Täuschung erhalten werden; man kann sie gar nicht genug betrügen.«
    Madame sah mit hochmütiger Miene nach ihrem Schützling hin und nickte bestätigend.
    »Was Euch betrifft«, sagte sie, »so könnt Ihr wahrscheinlich schreien und Tränen vergießen bei allem, wenn es nur prunkt und Lärm macht. Ist es nicht so?«
    »In der Tat, Madame, ich glaube. Für den Augenblick.«
    »Wenn man Euch einen Haufen Puppen zeigte und Ihr die Aufgabe hättet, zu Eurem Nutz und Frommen sie zu zerreißen und zu verderben, so würdet Ihr wohl mit den am reichsten und buntest gekleideten den Anfang machen. Ist's nicht so?«
    »Wahrhaftig, ja, Madame.«
    »Ja. Und wenn man Euch einen Schwarm Vögel wiese, die nicht fliegen können, und Euch erlaubte, ihnen zu Eurem Nutz und Frommen die Federn auszurupfen, so würdet Ihr zuerst nach denen mit dem schönsten Gefieder greifen. Ist's nicht so?«
    »Jawohl, Madame.«
    »Ihr habt heute die Puppen und die Vögel gesehen«, sagte Madame Defarge, nach der Stelle zurückdeutend, wo der Zug sich zuletzt bewegt hatte. »Und jetzt nach Hause!«
    Sechzehntes Kapitel
    Es wird weitergestrickt
    Madame Defarge und ihr Herr Gemahl kehrten traulich miteinander in den Schoß von Saint Antoine zurück, während ein Fleck in einer blauen Mütze durch Dunkelheit und Staub die ermüdende Allee neben der Straße sich hinunterbewegte und langsam in die Kompaßrichtung strebte, wo das Schloß des jetzt in seinem Grabe liegenden Monsieur le Marquis auf das Flüstern der Bäume lauschte. Die steinernen Gesichter hatten nun so reichlich Muße, den Bäumen und dem Brunnen zuzuhören, daß die Dorfvogelscheuchen, die bei ihrem Spähen nach eßbarem Grün und brennbarem Reisig sich in die Nähe des steinernen Hofes und der Terrassentreppe verirrten, in ihrer ausgehungerten Einbildungskraft auf den Gedanken kamen, die Gesichter seien anders geworden. In dem Dorfe erhielt sich noch ein Gerücht – freilich nur schwach und abgezehrt wie die Einwohnerschaft selbst –, die Gesichter hätten, als das Messer gestoßen wurde, ihren Ausdruck von Stolz in den von Zorn und Schmerz verwandelt, und als die baumelnde Gestalt vierzig Fuß hoch über dem Brunnen hing, sei abermals eine Veränderung vorgegangen, denn sie trügen von da an und für immer die grausame Miene gesättigter Rache. Auf dem steinernen Gesicht über dem großen Fenster des Schlafgemachs, wo der Mord geschah, zeigten sich in der gemeißelten Nase zwei feine
Grübchen, die jedermann erkennen konnte, vorher aber nie jemand gesehen hatte; und wenn bei seltenen Gelegenheiten zwei oder drei zerlumpte Bauern aus dem Haufen der anderen auftauchten, um einen hastigen Blick nach dem versteinerten Monsieur le Marquis zu werfen, so konnte keiner auch nur eine Minute mit dem mageren Finger danach hindeuten, ohne daß

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