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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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kann? Ohne Zweifel ist es sicher, da sie außer uns niemand zu entziffern imstande ist; aber werden wir immer in der Lage sein, es zu tun – oder, wie ich vielmehr sagen sollte, wird sie es immer können?«
    »Jacques«, entgegnete Defarge, sich hoch aufrichtend, »wenn es meine Frau auf sich nehmen wollte, die Liste nur in ihrem Gedächtnis zu führen, so würde kein Wort, keine Silbe davon verloren gehen; gestrickt aber mit ihren eigenen Maschen und ihren symbolischen Zeichen, ist es ihr stets so klar wie die Sonne. Ihr könnt euch auf Madame Defarge verlassen; für die elendeste Memme, die da lebt, wäre es viel leichter, sich aus dem Buche der Lebendigen zu streichen, als nur einen Buchstaben seines Namens oder seiner Verbrechen aus Madame Defarges gestrickter Liste zu tilgen.«
    Es folgte darauf ein Gemurmel des Beifalls und des Vertrauens; dann stellte der hungernde Mann die Frage:
    »Soll dieser Bauer bald wieder zurückgeschickt werden? Ich hoffe es. Er ist sehr einfältig; könnte er nicht gefährlich werden?«
    »Er weiß nichts«, sagte Defarge, »wenigstens nichts weiter, als was ihn leicht an einen Galgen von derselben Höhe bringen könnte. Ich nehm ihn auf mich; laßt ihn bei mir bleiben. Ich will Sorge für ihn tragen und ihm seinen Weg anweisen. Er wünscht die vornehme Welt zu sehen, den König, die Königin, den Hof; so mag er am Sonntag seinen Willen haben.«
    »Wie?« rief der Mann mit dem Hunger, die Augen weit aufreißend. »Ist es ein gutes Zeichen, daß er das Königtum und den Adel zu sehen wünscht?«
    »Jacques«, sagte Defarge, »bist du klug, so zeigst du einer Katze Milch, wenn du willst, daß sie danach dürsten soll. Bist du klug, so zeigst du einem Hunde seine natürliche Beute, wenn du willst, daß er sie eines Tages erjage.«
    Weiter wurde nicht gesprochen, und man rief nun dem Mann vom Lande, den man bereits schlafend auf der obersten Treppenstufe fand, daß er auf dem Bett ein wenig der Ruhe
pflegen solle. Dazu war nicht viel Überredung notwendig; er schlief bald ein.
    Für einen solchen Sklaven aus der Provinz mochte es in Paris wohl schlimmere Quartiere geben als Defarges Weinschenke. Mit Ausnahme einer geheimnisvollen Furcht vor Madame, die ihm keine Ruhe ließ, verbrachte er sein neues Leben recht angenehm. Aber Madame saß den ganzen Tag an ihrem Zahltisch und achtete so merkwürdig wenig auf ihn, ja sie schien so fest entschlossen zu sein, nicht bemerken zu wollen, wie sein Hiersein doch keine so ganz oberflächliche Bedeutung habe, daß er in seinen Holzschuhen zitterte, sooft sein Auge auf sie fiel. Denn er machte sich immer Gedanken darüber, wie unmöglich es sei, vorauszusehen, was diese Frau zunächst sich herausnehmen werde, und fühlte sich überzeugt, wenn sie sich's in ihren bunt geschmückten Kopf setzen sollte, zu behaupten, sie sei Zeuge gewesen, wie er einen Mord begangen und hinterdrein seinem Opfer die Haut abgezogen habe, so würde sie auch das unfehlbar nach ihrem Willen durchführen bis zum Ende.
    Als daher der Sonntag kam, war der Biedermann, obwohl er das Gegenteil behauptete, gar nicht erfreut über die Kunde, daß Madame und Monsieur ihn selbst nach Versailles begleiten wollten. Ein weiterer verwirrender Umstand war, daß Madame auf dem ganzen Wege in dem offenen Wagen strickte, und am meisten brachte ihn in Verlegenheit, daß sie nachmittags, als sie auf die Kutsche des Königs und der Königin wartete, in dem Menschengewühl keinen Augenblick ihr Strickzeug aus der Hand legte.
    »Ihr arbeitet recht fleißig, Madame«, sagte ein Mann in ihrer Nähe.
    »Ja«, antwortete Madame Defarge; »ich habe viel zu tun.«
    »Was fertigt Ihr, Madame?«
    »Allerlei.«
    »Zum Beispiel?«
    »Zum Beispiel«, erwiderte Madame Defarge schnell gefaßt, »Leichentücher.«
    Der Mann suchte, sobald es möglich war, weiter von ihr wegzukommen, und der Straßenarbeiter fächelte sich mit seiner blauen Mütze, da ihm die Luft gewaltig schwül und dunstig vorkam. Es bedurfte eines Königs und einer Königin, um ihn wieder aufzufrischen, und zum Glück brauchte er auf diese Stärkung nicht mehr lange zu warten. Der breitmäulige König kam mit der hübschen Königin in einer vergoldeten Kutsche angefahren, begleitet von den strahlenden Trabanten des Hofes, einem fütternden Schwarm von lachenden Frauen und feinen Herren. Und an den Juwelen und Seidenstoffen, an dem Puder und der Pracht, an den stolzen Gestalten und den verächtlich umherblickenden schönen Gesichtern

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