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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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wurden. Merkwürdig, was für ein kopfloses Volk die Fliegen sind! – Vielleicht dachten sie bei Hofe ebenso an jenem heißen Sommertage.
    Eine durch die Tür eintretende Gestalt warf einen Schatten auf Madame Defarge; ohne hinzusehen, fühlte sie, daß dies ein neuer Gast war. Sie legte ihr Strickzeug nieder und steckte die Rose in ihren Kopfputz, ehe sie sich umschaute.
    Es war seltsam. Sobald Madame Defarge die Rose aufgenommen hatte, hörten die Gäste auf zu sprechen und verloren sich allmählich aus der Weinstube.
    »Guten Tag, Madame«, grüßte der neue Ankömmling.
    »Guten Tag, Monsieur.«
    Dies sprach sie laut; dann aber fügte sie innerlich bei, während sie wieder nach ihrem Strickzeug griff: ›Ha, guten Tag. Alter ungefähr vierzig, Höhe fünf Fuß neun Zoll, schwarzes Haar, im allgemeinen ein ziemlich hübsches Gesicht, dunkle Hautfarbe, schwarze Augen, schmales, langes, bleiches Antlitz, Adlernase, aber nicht geradestehend, sondern eigentümlich ge
gen die linke Wange hin geneigt, daher ein unheimlicher Ausdruck! Guten Tag, alle miteinander.‹
    »Darf ich um ein Gläschen alten Kognak und um einen Schluck frisches Wasser bitten, Madame?«
    Madame willfahrte in höflicher Weise.
    »Vortrefflicher Kognak, Madame!«
    Es war das erste Mal, daß ihm dieses Kompliment zuteil wurde, und Madame Defarge kannte sich zu gut aus, es für etwas anderes zu nehmen. Sie sagte jedoch, daß dieses Lob dem Kognak sehr schmeichle, und nahm ihre Strickerei wieder auf.
    »Ihr strickt ja recht geschickt, Madame.«
    »Gewohnheit.«
    »Auch ein sehr hübsches Muster.«
    »Meint Ihr?« versetzte Madame, mit einem Lächeln nach ihm hinsehend.
    »Zuverlässig. Darf man fragen, was es geben soll?«
    »Zeitvertreib«, sagte Madame, ihn noch immer lächelnd ansehend, während ihre Finger hurtig fortarbeiteten.
    »Also nicht für den Gebrauch?«
    »Je nachdem. Möglich, daß ich es eines Tages benutzen kann. Kommt die Zeit – je nun«, fügte Madame bei, indem sie tief aufatmete und in einer Art ernster Koketterie mit dem Kopf nickte, »so gedenke ich Gebrauch davon zu machen.«
    Es war merkwürdig, aber der Geschmack von Saint Antoine schien sich durch eine Rose in dem Kopfputz der Madame Defarge verletzt zu fühlen. Zwei Männer, die gesondert nacheinander eintraten, hatten augenscheinlich Lust, etwas zu bestellen; als sie aber dieser Neuerung ansichtig wurden, stotterten sie, taten nur so, als hätten sie einen Freund gesucht, der nicht da war, und entfernten sich wieder. Von den Gästen, die beim Eintritt des Fremden in der Weinstube gewesen, sah man keinen mehr; alle waren fortgegangen. Der Spion hatte seine Augen
offen gehabt, aber nicht bemerken können, daß ein Zeichen gegeben worden war. Ihr Verschwinden war ganz natürlich und unverdächtig vor sich gegangen, als sei durchaus keine Absicht, höchstens eine leere Börse die Ursache dazu gewesen.
    › John ‹, dachte Madame, in ihrer Arbeit innehaltend, obschon ihre Finger, während ihre Augen auf dem Fremden ruhten, automatisch sich fortbewegten. ›Wenn du lange genug bleibst, so stricke ich in deinem Beisein das Wort Barsad aus.‹
    »Ihr habt einen Mann, Madame?«
    »Ja.«
    »Kinder?«
    »Nein.«
    »Das Geschäft scheint schlecht zu gehen.«
    »Sehr schlecht. Die Leute sind so arm.«
    »Ach, das unglückliche, bedauernswürdige Volk! Und noch obendrein so gedrückt, wie Ihr sagt.«
    »Wie Ihr sagt«, versetzte Madame, ihn verbessernd und gewandt ein Extra-Etwas in seinen Namen strickend, das nichts Gutes für ihn bedeutete.
    »Ich bitte um Verzeihung; allerdings habe ich so gesagt, aber, versteht sich, damit nur einen Gedanken von Euch ausgedrückt. Natürlich.«
    »Einen Gedanken von mir ?« erwiderte Madame mit erhobener Stimme. »Ich und mein Mann haben genug zu tun, diese Weinstube im Gange zu erhalten, ohne daß wir uns mit Gedanken plagen. Hier denkt man an nichts weiter, als wie man sein Leben durchschlägt. Dies ist der Gegenstand unserer Gedanken, und er nimmt uns vom Morgen bis in die Nacht voll in Anspruch, ohne daß wir unsere Köpfe mit dem Denken für andere zu behelligen brauchen. Tue dies jeder für sich selbst; ich will nichts davon wissen.«
    Der Spion, der sich eingefunden hatte, um womöglich eini
ge Krümlein aufzulesen oder etwas auszuspinnen, ließ auf seinem unheimlichen Gesicht nichts von seinem Ärger merken, sondern stand wie ein galanter Plauderer da, lehnte seinen Ellenbogen auf Madame Defarges kleinen Zahltisch und schlürfte

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