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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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die übrigen auseinanderstoben, um unter Moos und Gebüsch sich zu verbergen wie die Hasen, die freilich, glücklicher als jene, dort auch ihre Nahrung fanden.
    Schloß und Hütte, Steingesicht und baumelnde Gestalt, der rote Fleck auf dem Steinboden und das reine Wasser in dem Dorfbrunnen, Tausende von Morgen Landes, eine ganze Provinz von Frankreich, ja sogar ganz Frankreich lag unter dem Nachthimmel zu einer schwachen haarbreiten Linie zusammengezogen. So liegt eine ganze Welt mit all ihrem Großen und Kleinen in dem flimmernden Punkt eines Sterns. Und da einfaches menschliches Wissen wohl einen Lichtstrahl zu spalten und die Art seiner Zusammensetzung zu zergliedern vermag, so liest ein höherer Verstand in dem schwachen Widerschein dieser unserer Erde jeden Gedanken und jede Tat, jede Tugend und jedes Laster in den Seelen der darauf lebenden verantwortlichen Geschöpfe.
    Die Defarges, Mann und Frau, kamen unter dem Schein der Sterne in einem holpernden Wagen zu dem Tor jenes Teiles von Paris, der das Ziel ihrer Reise war. Wie gewöhnlich mußte vor dem Wachhaus an der Barriere haltgemacht werden, und die gewöhnlichen Laternen kamen zu der gewöhnlichen Untersuchung aus dem Wachhaus heraus. Monsieur Defarge stieg aus. Er kannte ein paar von den Soldaten und einen von der Polizei. Mit diesem stand er auf sehr vertrautem Fuße, weshalb er ihn aufs freundschaftlichste grüßte.
    Saint Antoine hatte die Defarges mit seinen mächtigen
Schwingen wieder umfangen, und sie suchten, als sie an der Grenze des Heiligen ausgestiegen waren, zu Fuß ihren Weg durch den schwarzen Kot und den Unrat der Straßen. Da fragte Madame Defarge ihren Mann:
    »Sage, mein Freund, was hat Jacques von der Polizei dir mitgeteilt?«
    »Heute sehr wenig, aber doch alles, was er weiß. Es ist wieder ein Spion für unsern Stadtteil angestellt worden. Vielleicht sind's ihrer viel mehr, aber er hat nur von diesem einen Kenntnis.«
    »Wirklich?« versetzte Madame Defarge, mit kalter Geschäftsmiene die Augenbrauen in die Höhe ziehend. »Dann ist's nötig, ihn einzutragen. Wie heißt der Mann?«
    »Er ist ein Engländer.«
    »Um so besser. Sein Name?«
    »Barsad«, sagte Defarge, indem er durch die Aussprache ihn zu einem französischen machte; doch hatte er sich's so angelegen sein lassen, ihn genau zu erfahren, daß in den Buchstaben kein Irrtum obwalten konnte.
    »Barsad«, wiederholte Madame. »Gut. Taufname?«
    »John.«
    »John Barsad«, murmelte Madame ein paarmal vor sich hin.
    »Gut. Weiß man, wie er aussieht?«
    »Alter ungefähr vierzig Jahre, Höhe fünf Fuß neun Zoll, schwarzes Haar, dunkle Hautfarbe, im allgemeinen ein ziemlich hübsches Gesicht, schwarze Augen, schmales, langes, bleiches Antlitz, Adlernase, aber nicht geradestehend, sondern eigentümlich gegen die linke Wange hin geneigt, daher ein unheimlicher Ausdruck.«
    »Meiner Treu, das ist ein Porträt!« sagte Madame lachend. »Er soll morgen eingetragen werden.«
    Sie hatten ihre Schenke erreicht, die jetzt, um Mitternacht, geschlossen war. Madame nahm drinnen ihren Posten alsbald an dem Pulte ein, zählte die kleine Münze, die in ihrer Abwesenheit eingegangen, untersuchte die Vorräte, ging die Einträge im Buche durch, machte selbst weitere, befragte den Kellner über alles mögliche und ließ ihn endlich zu Bette gehen. Dann leerte sie den Inhalt der Geldschüssel zum zweiten Male aus und begann, ihn zu sicherer Aufbewahrung für die Nacht partienweise in ihr Taschentuch zu knüpfen, so daß dadurch eine Kette getrennter Knoten gebildet wurde. Diese ganze Zeit über ging Defarge mit der Pfeife im Mund auf und ab und sah mit wohlgefälliger Bewunderung zu, ohne sich einzumengen. Ein solches Aufundabwandeln war überhaupt sein ganzer Lebensgang.
    Die Nacht war heiß, und in der dumpfen, von einer ekelhaften Nachbarschaft umgebenen Weinstube roch es nicht angenehm. Monsieur Defarges Geruchssinn gehörte zwar nicht zu den feinsten, aber der Wein dünstete viel schärfer aus als sonst, und ebenso kam es ihm bei dem Rum, dem Anis und dem Branntwein vor. Er schnüffelte über das Gemisch dieser Gerüche, als er die ausgerauchte Pfeife weglegte.
    »Du bist abgespannt«, sagte Madame, von ihren Geldknoten aufschauend. »Es riecht wie sonst auch.«
    »Ich bin allerdings etwas müde«, räumte der Gatte ein.
    »Und etwas niedergedrückt dazu«, sagte Madame, deren scharfes Auge nie so sehr in Anspruch genommen war, daß es nicht einige Blicke für ihn hätte erübrigen können.

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