Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
»Oh, die Männer, die Männer!«
    »Aber meine Liebe«, begann Defarge.
    »Nun, meine Liebe«, wiederholte Madame mit entschiedenem Kopfnicken – »was soll meine Liebe? Du bist heute nacht sehr kleinmütig, mein Bester.«
    »Nun ja«, sagte Defarge, als ob ein Gedanke sich von seiner Brust losrisse, »es ist noch eine lange Zeit.«
    »Jawohl, eine lange Zeit«, versetzte sein Weib. »Und wenn es nicht noch lange Zeit wäre? Rache und Vergeltung wollen Zeit haben; das ist die Regel.«
    »Der Blitz, der auf einen Menschen niederfährt, braucht nicht lange«, sagte Defarge.
    »Aber wie lange braucht's«, fragte Madame ruhig, »um den Blitz vorzubereiten? Sag mir das.«
    Defarge richtete gedankenvoll den Kopf auf, als ob auch in ihm etwas brüte.
    »Es ist für ein Erdbeben keine lange Frist nötig«, sagte Madame, »um eine Stadt zu zerstören. Aber sage mir, wie lange das Erdbeben braucht, bis es zum Losbrechen fertig ist.«
    »Vermutlich lange«, sagte Defarge.
    »Aber wenn es einmal soweit ist, so kracht es und mahlt alles in Trümmer. In der Zwischenzeit schafft es vorbereitend, ohne daß man etwas davon hört oder sieht. Das ist ein Trost für dich; halt ihn fest.«
    Sie knüpft mit flammenden Augen einen Knoten, als ob sie einen Feind erdroßle.
    »Ich sage dir«, fuhr Madame fort und streckte pathetisch die Hand aus, »daß es, wenn es auch lange braucht, doch schon auf dem Wege ist und kommen wird. Ich sage dir, es weicht nicht zurück und macht keinen Augenblick halt. Ich sage dir, es rückt ohne Unterlaß näher. Sieh umher und betrachte dir das Leben aller, die wir kennen, die Gesichter aller unserer Bekannten – merke auf die Wut und die Unzufriedenheit, in denen die Jacquerie mit jeder Stunde sich mehr befestigt. Können solche Zustände bleiben? Pah, wie närrisch du mir vorkommst!«
    »Mein braves Weib«, erwiderte Defarge, der gesenkten Haup
tes und mit auf dem Rücken verschlungenen Händen dastand, einem gelehrigen Schüler gleich, der seinem Lehrer aufmerksames Gehör schenkt, »ich bezweifle von alledem nichts. Aber es hat schon so lange gedauert, und so mag es wohl kommen – du weißt wohl, Frau, wie leicht das möglich ist –, daß wir's nicht mehr erleben.«
    »Nun – und was dann?« fragte Madame, abermals einen Knoten drehend, als gelte es, einen neuen Feind zu erwürgen.
    »Dann sehen wir eben den Triumph der Sache nicht«, antwortete Defarge mit einem halb kläglichen, halb entschuldigenden Achselzucken.
    »So haben wir doch mitgeholfen«, sagte Madame mit einer entschiedenen Geste. »Nichts, was wir tun, wird umsonst gewesen sein. Doch glaube ich aus voller Seele, wir können den Triumph noch mit ansehen. Und wenn es auch nicht sein sollte, und ich wüßte es gewiß, so zeige man mir den Hals eines Aristokraten und Tyrannen, und ich will …«
    Madame biß jetzt die Zähne zusammen und drehte einen wahrhaft schrecklichen Knoten.
    »Halt!« rief Defarge, ein wenig errötend, da ihn die Worte seiner Ehehälfte wie ein Vorwurf der Feigheit trafen, »auch ich werde mich durch nichts zurückschrecken lassen!«
    »Ja; aber es ist eine Schwäche von dir, daß man dir zuweilen dein Opfer und die Gelegenheit zeigen muß, um deinen Mut aufrecht zu halten. Sei ein Mann auch ohne das! Wenn die Zeit kommt, kannst du einen Tiger und einen Teufel loslassen, aber so lange mußt du warten und Tiger und Teufel an der Kette halten – nichts zeigen, aber immer vorbereitet sein.«
    Madame verstärkte den Schluß dieses guten Rates damit, daß sie mit ihrer Geldkette auf den kleinen Zahltisch schlug, als wolle sie jemand den Schädel einhämmern; dann nahm
sie mit ruhiger Miene das Schnupftuch unter den Arm und erklärte, es sei Zeit zum Schlafengehen.
    Am nächsten Mittag sah man die merkwürdige Frau wieder in der Weinstube, emsig strickend, auf ihrem gewöhnlichen Platze. Eine Rose lag neben ihr, und wenn sie hin und wieder nach der Blume hinsah, so geschah es ohne einen Wechsel in ihrer nachdenklichen Miene. Einige Gäste saßen oder standen mit oder ohne Trunk umher. Es war ein sehr heißer Tag, und Scharen von Fliegen, die ihre neugierigen und gewagten Forschungen auf alle die klebrigen kleinen Gläser in der Nähe von Madame ausdehnten, fielen tot zu Boden. Ihr Untergang machte keinen Eindruck auf die außen herumspazierenden Fliegen, die in der gelassensten Weise auf sie niederschauten, als seien sie selbst Elefanten oder sonst etwas ganz anders Geartetes, bis sie vom gleichen Schicksal ereilt

Weitere Kostenlose Bücher