Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
mechanische Arbeit war ein mechanischer Ersatz für Essen und Trinken; die Hände bewegten sich statt der Kiefer und statt des Verdauungsapparates. Hätten die klapperdürren Finger geruht, so würde der Magen das Kneifen des Hungers schwerer empfunden haben.
    Aber wie die Finger gingen, so gingen auch die Augen und die Gedanken. Und während Madame Defarge von Gruppe zu Gruppe wandelte, gingen alle drei rascher und eifriger in jedem kleinen Weiberhaufen, mit dem sie gerade gesprochen hatte.
    Ihr Mann rauchte unter der Tür und sah ihr mit Bewunderung zu. »Eine große Frau«, sagte er, »eine starke Frau, eine großartige Frau, eine schrecklich großartige Frau!«
    Die Dunkelheit brach herein; dann kam das Läuten der Kirchturmglocken und der ferne Zapfenstreich der königlichen Garde. Die Weiber saßen da und strickten und strickten. Es wurde Nacht um sie her. Eine andere Dunkelheit brach ebenso sicher herein, wenn einmal die Kirchenglocken, die von vielen stolzen Türmen lieblich über Frankreich hinläuteten, zu donnernden Kanonen umgeschmolzen waren und der Trommelschlag erscholl, um eine klägliche Stimme zu ersticken, die
in dieser Nacht noch gewaltig war als die Stimme der Macht und des Überflusses, der Freiheit und des Lebens. Es dunkelte so sehr um die Weiber her, die strickend und strickend dasaßen, daß um sie selbst der düstere Schatten eines noch nicht errichteten Bauwerks aufwuchs, vor dem sie sitzen wollten, um zu stricken, zu stricken und fallende Köpfe zu zählen.
    Siebzehntes Kapitel
    Eine Nacht
    Nie ging an der stillen Ecke in Soho die Sonne glänzender unter als an jenem denkwürdigen Abend, den der Doktor mit seiner Tochter unter der Platane verbrachte. Nie warf der Mond einen milderen Glanz über das große London als an jenem Abend, während sie noch unter dem Baume saßen und er durch die Blätter auf ihre Gesichter niederschien.
    Lucie sollte am andern Morgen vor den Altar treten. Diesen letzten Abend hatte sie ihrem Vater vorbehalten, und sie saßen allein unter der Platane.
    »Ihr seid glücklich, mein lieber Vater?«
    »Vollkommen, mein Kind.«
    Sie hatten wenig miteinander gesprochen, obschon sie bereits eine geraume Zeit dasaßen. Auch als es noch hell genug war, zu arbeiten oder zu lesen, hatte sie weder ihr gewöhnliches Geschäft aufgenommen noch ihm vorgelesen. Unter solchem Zeitvertreib war ihr oft unter dem Baume der Abend an seiner Seite vergangen; aber der heutige glich den anderen nicht ganz, und es ließ sich nichts erzwingen.
    »Auch ich bin heute abend sehr glücklich, lieber Vater. Ich fühle mich selig in der Liebe, mit der mich der Himmel ge
segnet hat – in meiner Liebe zu Charles und in Charles' Liebe zu mir. Aber wenn nicht trotzdem mein Leben fortwährend Euch gewidmet sein dürfte oder wenn diese Heirat es nötig machte, getrennt von Euch zu leben, wäre es auch nur um einige Straßenlängen, so würde ich mich unglücklicher fühlen, als ich Euch sagen kann, und müßte mir stets Vorwürfe machen. Selbst so, wie es ist …«
    Selbst so, wie es war, vermochte sie nicht weiter über ihre Stimme zu gebieten.
    In dem melancholischen Mondlicht – es ist immer melancholisch, während das der Sonne oder jenes Licht, das man Menschenleben nennt, nur beim Kommen und Gehen so genannt werden kann – schlang sie den Arm um seinen Hals und legte das Gesicht an seine Brust.
    »Teuerster Vater, könnt Ihr mir dieses letzte Mal sagen, daß Ihr Euch ganz und vollkommen überzeugt fühlt, keine neue Liebe, keine neuen Pflichten von meiner Seite würden je den alten Abbruch tun? Ich weiß es wohl; aber wißt auch Ihr es? Sagt Euch Euer Herz, daß Ihr ruhig sein dürft?«
    Ihr Vater antwortete mit einer heitern Überzeugungsfestigkeit, die nicht erkünstelt sein konnte: »Vollkommen ruhig, mein Leben. Ja, mehr als dies«, fügte er hinzu, indem er sie zärtlich küßte; »meine Zukunft erscheint mir in dem Lichte deiner Verheiratung weit glänzender, als sie es ohne diese sein könnte oder als je die Vergangenheit war.«
    »Wenn ich das hoffen könnte, mein Vater!«
    »Glaube es nur, meine Liebe! Es ist in der Tat so. Und es ist ja ganz einfach, daß es so sein muß. Du, die du so jung und aufopferungsvoll bist, hast freilich keinen Sinn für die Angst, die mich stets quälte, dein Leben könnte verfehlt sein …«
    Sie hob ihre Hand gegen seine Lippen; er aber nahm sie in die seinige und wiederholte das Wort.
    »Verfehlt, mein Kind – um meinetwillen der natürlichen Ordnung

Weitere Kostenlose Bücher