Eine Geschichte aus zwei Städten
es seiner Mutter glich. Das andere hatte auch diese Ähnlichkeit wie du, war aber nicht dasselbe. Kannst du mir folgen, Lucie? Ich glaube, kaum. Du müßtest auch eine einsame Gefangene gewesen sein, um solche wirren Unterschiede zu begreifen.«
Sein gefaßtes ruhiges Wesen konnte nicht hindern, daß ihr das Blut in den Adern stockte, als er in solcher Weise seinen alten Zustand zu zergliedern versuchte.
»In jener friedlicheren Mondlichtstimmung bildete ich mir ein, sie komme zu mir und führe mich hinaus, um mir zu zeigen, wie ihr ehelicher Hausstand voll war von lieben Erinnerungen an den verlorenen Vater. Mein Bild hing in ihrem Zimmer, und ich lebte in ihren Gebeten. Ihr Leben war tätig, heiter, nützlich, aber in allem lag ein Zug aus meiner kläglichen Geschichte.«
»Mein Vater, jenes Kind war ich. An Güte kann ich mich zwar nicht mit ihm messen, aber in meiner Liebe war ich es.«
»Und sie zeigte mir ihre Kinder«, fuhr der Doktor von Beauvais fort, »und sie hatten von mir gehört und hatten gelernt, mich zu bemitleiden. Wenn sie an einem Staatsgefängnis vorbeikamen, wagten sie nicht, sich seinen finstern Mauern zu nähern; aber sie blickten zu den Gittern in die Höhe und sprachen flüsternd miteinander. Sie konnte mich nie befreien, und es kam mir vor, sie führe mich immer wieder zurück, nachdem sie mir solche Dinge gezeigt hatte. Dann aber sank ich, meiner Seele in Tränen Erleichterung schaffend, auf die Knie nieder und segnete sie.«
»Mein Vater, ich hoffe, ich bin dieses Kind. O mein teurer Vater, werdet Ihr mich morgen mit der gleichen Inbrunst segnen?«
»Lucie, ich erinnere mich an diese alten Leiden, weil ich heute abend Grund habe, dich mehr zu lieben, als ich in Worten auszudrücken vermag, und Gott für mein Glück zu danken. In meinen wildesten Träumen habe ich mich nie zu dem Glück erhoben, das mir an deiner Seite wurde und das uns fortan bevorsteht.«
Er umarmte sie, empfahl sie feierlich dem Himmel und dankte Gott, daß er sie ihm geschenkt hatte. Dann gingen sie in das Haus zurück.
Zu der Vermählung wurde niemand gebeten als Mr. Lorry; nicht einmal eine Brautjungfer sollte mitgehen, die hagere Miß Proß ausgenommen. Wegen der Heirat brauchte die Wohnung nicht gewechselt zu werden; sie hatten sich ausdehnen können, indem sie die oberen Zimmer, die früher dem geheimnisvollen, unsichtbaren Mieter gehörten, für sich nahmen, und mehr verlangten sie nicht.
Doktor Manette war bei dem kleinen Abendessen sehr hei
ter. Sie saßen nur zu dritt am Tische, er, Lucie und Miß Proß. Er bedauerte, daß Charles nicht da war, hatte eigentlich Lust, über das Komplott der Liebe, die ihn fernhielt, zu zürnen, und trank aus der Fülle seines Herzens auf seine Gesundheit.
So kam für ihn die Zeit, Lucie gute Nacht zu sagen, und sie trennten sich. Aber in der Stille der dritten Morgenstunde ging sie leise die Treppe hinunter zu seinem Zimmer, da sie nicht frei war von unbestimmten Befürchtungen.
Alles stand an seinem Platz; alles war ruhig, und er lag in sanftem Schlafe, das weiße Haar malerisch über das wenig zerdrückte Kissen hingegossen, während seine Hände auf der Decke lagen. Sie stellte ihr störendes Licht in einen beschattenden Winkel, schlich an sein Bett und berührte seine Lippen mit den ihrigen; dann beugte sie sich zu ihm nieder und betrachtete ihn.
Sein schönes Gesicht war von den bitteren Tränen der Gefangenschaft durchwühlt; er aber hatte die Spuren ihres Laufes mit dem Ausdruck einer so festen Entschlossenheit getilgt, daß er selbst im Schlaf Gewalt über sie behielt. In dieser Nacht sah man wohl durch das ganze weite Gebiet des Schlafes kein Gesicht, das in seinem ruhigen, willenskräftigen und behutsamen Kampf mit einem unsichtbaren Feind ergreifender gewesen wäre.
Sie legte schüchtern die Hand auf die teure Brust und betete zu Gott, er möge ihre Liebe gegen ihn so treu erhalten, wie sie es wünsche und wie es sein Unglück verdiene. Dann nahm sie die Hand wieder weg, küßte ihn nochmals auf die Lippen und entfernte sich. Und als endlich die Sonne aufging, zitterten die Laubschatten der Platane auf seinem Gesicht so leicht, wie ihre Lippen sich bewegt hatten, als sie für ihn betete.
Achtzehntes Kapitel
Neun Tage
Der Hochzeitsmorgen war herrlich angebrochen, und draußen vor der geschlossenen Tür zu dem Zimmer des Doktors, wo dieser noch mit Charles Darnay Rücksprache hielt, stand alles bereit. Man konnte jeden Augenblick nach der Kirche
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