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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Luft oder gegen eine echolose Wand gesprochen. Den einzigen Hoffnungsstrahl glaubte Mr. Lorry in dem Umstand zu entdecken, daß er bisweilen verstohlen aufsah, ohne daß er gefragt wurde. Es schien darin wenigstens ein Ausdruck von Neugierde oder Verlegenheit zu liegen, als versuche er, mit einigen Zweifeln in seinem Geiste zurechtzukommen.
    Zwei Dinge schienen Mr. Lorry zunächst von besonderer Wichtigkeit zu sein, erstlich, man müsse den Sachverhalt vor Lucie, und zweitens, man müsse ihn vor allen geheimhalten, die den Doktor kannten. Zur Ausführung der zweiten Vorsichtsmaßregel tat er ohne Säumen gemeinschaftlich mit Miß Proß die geeigneten Schritte, indem er aussprengen ließ, daß Mr. Manette unwohl sei und einige Tage völliger Ruhe bedürfe. Um die freundliche Täuschung, die an der Tochter geübt werden sollte, zu unterstützen, mußte Miß Proß an sie schreiben, er habe eine Berufung zu einem Kranken erhalten, und sich dabei auf einen angeblich von ihm selbst geschriebenen, aus ein paar hastig hingeworfenen Zeilen bestehenden Brief beziehen, der mit der gleichen Post an sie abgegangen sei.
    Diese Maßregeln, die sich für alle Fälle empfahlen, traf Mr. Lorry in der Hoffnung, daß die Geistesverwirrung nur vorübergehend sein werde. Besserte sich's bald wieder, so hatte er noch etwas anderes in Bereitschaft; er wollte sich nämlich
auf die beste Art ein sicheres Gutachten über den Zustand des Doktors verschaffen. In dieser Absicht beschloß er, mit möglichst wenig Aufsehen ihn persönlich zu überwachen; er traf daher zum ersten Mal in seinem Leben Vorkehrungen, um eine Zeitlang von Tellsons wegbleiben zu können, und bezog seinen Posten am Fenster im selben Zimmer.
    In kurzer Zeit machte er übrigens die Wahrnehmung, daß es schlimmer als nutzlos war, ihn anzureden, da er, wenn man ihm zusetzte, ganz verstört wurde. Er gab deshalb diesen Versuch schon am ersten Tage wieder auf und beschloß, nur selbst stets ihm vor Augen zu sein als stillschweigender Widerspruch gegen die Halluzination, in die er befangen war oder in die er verfallen wollte. So blieb er denn am Fenster auf seinem Sitze, wo er las und schrieb und auf alle erdenkliche möglichst natürliche Weise zu verstehen gab, daß der Platz eigentlich leer sei.
    Doktor Manette genoß, was man ihm zu essen und zu trinken reichte, und arbeitete an jenem ersten Tage fort, bis es so dunkel wurde, daß er nichts mehr sah – arbeitete sogar eine halbe Stunde länger, als es Mr. Lorry möglich gewesen wäre, beim Lesen oder Schreiben noch etwas zu sehen. Nachdem er sein Werkzeug als für diesen Abend nutzlos beiseite gelegt hatte, stand Mr. Lorry auf und sagte zu ihm:
    »Wollt Ihr nicht ausgehen?«
    Er schaute in der alten Weise rechts und links vor sich auf den Boden, schaute in der alten Weise auf und wiederholte mit der alten tonlosen Stimme:
    »Ausgehen?«
    »Ja; mit mir einen Spaziergang machen. Warum nicht?«
    Er versuchte nicht, auf diese Frage zu antworten, und sprach auch kein Wort weiter. Aber Mr. Lorry meinte, er sehe, daß der Doktor, während er mit dem Ellenbogen auf den Knien und
den Kopf mit den Händen unterstützend im Dunkeln sich vorwärts beugte, in irgendeiner verschwommenen Weise die Frage an sich stelle: ›Warum nicht?‹ Die Schlauheit des Geschäftsmannes erkannte darin einen Vorteil, und er beschloß, ihn festzuhalten.
    Miß Proß und er teilten die Nacht in zwei Wachen und beobachteten ihn von Zeit zu Zeit aus dem anstoßenden Zimmer. Er schritt lange auf und ab, ehe er sich niederlegte, und als er es endlich tat, versank er bald in Schlaf. Am Morgen stand er zeitig auf und begab sich schnurstracks zu seiner Bank, um wieder zu arbeiten.
    An diesem zweiten Tage grüßte ihn Mr. Lorry heiter bei seinem Namen und redete mit ihm über Dinge, die ihm in der letzten Zeit gut bekannt gewesen waren; es erfolgte aber keine Antwort darauf, obschon man sah, daß er hörte, was man sagte, und daß er, wennschon in wirrer Weise, über das Gesprochene nachdachte. Dies ermutigte Mr. Lorry, Miß Proß am Tage öfters mit ihrer Arbeit ins Zimmer kommen zu lassen, bei welchen Gelegenheiten sie von Lucie und ihrem dabei anwesenden Vater ruhig und ganz in der gewöhnlichen Weise sprachen, als ob alles wie sonst sei. Dies geschah ohne demonstrative Zugaben, weder lange noch oft genug, ihm damit lästig zu werden, und Mr. Lorrys wohlwollendes Herz fühlte sich glücklich in der vermeintlichen Wahrnehmung, daß er öfters aufschaute und daß

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