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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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aufbrechen. Da war die schöne Braut, Mr. Lorry und Miß Proß, für die das Ereignis, mit dem sie sich um seiner Unvermeidlichkeit willen allmählich versöhnt hatte, unbedingt beseligend gewesen wäre, wenn nicht in einem Winkel ihrer Seele der Gedanke gelauert hätte, daß der Platz des Bräutigams eigentlich ihrem Bruder Salomon gehörte.
    »Deshalb also«, sagte Mr. Lorry, der die Braut nicht genug bewundern konnte und rund um sie herumgegangen war, um jedes Stück ihres hübschen bescheidenen Anzugs zu mustern, »deshalb also, meine holde Lucie, habe ich Euch als kleines Kind über den Kanal herüberbringen müssen. Gott behüte, wie wenig bedachte ich damals, was ich tat, und wie leicht wog mir die Verpflichtung, die ich seinerzeit meinem Freunde Mr. Charles auferlegen sollte.«
    »Es lag nicht in Eurem Willen«, bemerkte die praktische Miß Proß, »und Ihr konntet's ja nicht wissen. Unsinn!«
    »Meint Ihr? Gut; aber Ihr müßt nicht weinen«, sagte der sanfte Mr. Lorry.
    »Ich weine nicht«, versetzte Miß Proß; »aber Ihr tut es.«
    »Ich, meine liebe Proß?« (Mr. Lorry war schon so dreist geworden, sich gelegentlich einen Scherz mit ihr zu erlauben.)
    »Ja; gerade eben; ich sah es mit eigenen Augen und wundere mich auch nicht darüber. Ein solches Geschenk von Silbergeschirr, wie Ihr's ihnen gemacht habt, ist übrigens wohl imstande, jedermann Tränen zu entlocken. Es ist keine Gabel,
kein Löffel darunter, über die ich nicht gestern nacht, als der Korb kam, geweint hätte, bis ich sie nicht mehr sehen konnte.«
    »Das freut mich sehr«, entgegnete Mr. Lorry, »obschon ich auf Ehre nicht die Absicht hatte, daß durch diese unbedeutenden Erinnerungszeichen jemand die Augen übergehen sollten. Du mein Himmel, bei solchen Anlässen mag ein Mann sich wohl Gedanken darüber machen, was er alles versäumt hat. Ach ja, wenn ich so daran denke, daß es nun schon seit fast fünfzig Jahren eine Mrs. Lorry geben könnte!«
    »Unmöglich«, bemerkte Miß Proß
    »Ihr meint doch nicht, daß es keine Mrs. Lorry hätte geben können?« versetzte Mr. Lorry.
    »Pah!« sagte Miß Proß. »Ihr waret ein Hagestolz schon in der Wiege.«
    »Hm, das scheint mir auch wahrscheinlich«, erwiderte Mr. Lorry, mit strahlender Miene seine Perücke zurechtrückend.
    »Ihr waret zum Hagestolzen geschnitzt«, fuhr Miß Proß fort, »noch ehe Ihr in die Wiege kamt.«
    »Dann bin ich, sollt ich meinen, sehr stiefmütterlich behandelt worden«, sagte Mr. Lorry; »man hätte mir doch bei der Wahl des Zuschnitts eine Stimme lassen sollen. Doch genug. Meine teure Lucie« – er legte sanft den Arm um sie –, »ich höre, im Zimmer nebenan rührt sich's, und Miß Proß und ich als ein Paar förmliche Geschäftsleute wollen die letzte gute Gelegenheit nicht verlieren, Euch etwas zu sagen, was Ihr gern hört. Ihr laßt Euren guten Vater in Händen, die so sorglich und liebevoll sind wie die Eurigen; man wird sich während der nächsten vierzehn Tage, die Ihr in Warwickshire und seiner Nachbarschaft zuzubringen gedenkt, mit aller Aufmerksamkeit ihm widmen, und sogar Tellsons müssen vor ihm zurückstehen. Wenn er dann nach Ablauf der vierzehn Tage sich Euch und Eurem Gatten anschließt, um den weiteren zweiwö
chigen Ausflug durch Wales mitzumachen, so werdet Ihr sagen, wir haben ihn Euch in bester Gesundheit und in der glücklichsten Gemütsstimmung zugeschickt. Nun, ich höre einen Schritt sich der Tür nähern. Erlaubt mir, mein teures Mädchen, Euch mit einem altmodischen Junggesellensegen zu küssen, ehe dieser Jemand kommt, um sein Eigentum in Anspruch zu nehmen.«
    Er hielt einen Augenblick das schöne Antlitz vor sich hin, um den wohlbekannten Ausdruck der Stirn zu betrachten, und hielt dann mit einer Zartheit, die, wenn man dergleichen Dinge altmodisch finden will, mit ihrem Alter jedenfalls bis zu Adam hinabreichte, ihr helles Goldhaar gegen das braune seiner Perücke.
    Die Tür des Nebenzimmers öffnete sich, und der Doktor kam mit Charles Darnay heraus. Er war so leichenblaß – ganz anders als beim Hineingehen–, daß keine Spur von Farbe sich auf seinem Gesicht wahrnehmen ließ. Aber in seiner Haltung und in seinem Benehmen zeigte sich keine Veränderung, etwa mit der einzigen Ausnahme, daß Mr. Lorrys scharfer Blick aus einem schattenhaften Zuge entnahm, die frühere Angst und Furcht müsse wie ein kalter Wind über ihn hingegangen sein.
    Er gab seiner Tochter den Arm und führte sie die Treppe hinab zu dem Wagen, den Mr. Lorry

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