Eine Geschichte aus zwei Städten
der Dinge entrückt. Bei deiner Uneigennützigkeit kannst du nicht begreifen, wie schwer mir das auf der Seele gelegen hat; aber frage dich selbst: wie kann mein Glück vollkommen sein, wenn zu dem deinigen etwas fehlt?«
»Wenn ich Charles nie gesehen hätte, mein Vater, so wäre ich an Eurer Seite vollkommen glücklich gewesen.«
»Aber du hast ihn gesehen, mein Kind, und es ist Charles! Wäre er's nicht, so wär es ein anderer gewesen. Wo nicht, so müßte ich mich selbst als die Ursache betrachten, und dann hätte die Nachtseite meines Lebens ihren Schatten über mich hinaus geworfen, um dich zu treffen.«
Es war seit der Gerichtsverhandlung das erste Mal, daß sie ihn auf seine Leidensperiode anspielen hörte. Die Worte weckten in ihr ein neues, befremdliches Gefühl, dessen sie sich noch lange nachher erinnerte.
»Sieh«, sagte der Doktor von Beauvais, seine Hand gegen den Mond erhebend, »ich habe von meinem Gefängnisfenster nach ihm aufgeschaut, obschon ich sein Licht nicht ertragen konnte. Ich habe nach ihm gesehen, als mich der Gedanke, er beleuchte das, was ich verloren, mit einer solchen Qual erfüllte, daß ich mit dem Kopf gegen die Kerkerwände rannte. Ich sah nach ihm in einem so starren und des Lebens baren Zustande, daß ich an nichts zu denken vermochte als an die Zahl von waagerechten Linien, die sich durch seine volle Scheibe ziehen ließen, und an die Zahl der senkrechten, mit denen man sie schneiden konnte.« Dann fügte er in seiner in sich gekehrten, gedankenvollen Weise hinzu: »Ich erinnere mich, es waren ihrer zwanzig so oder so, und die zwanzigste wollte nur noch mit Not hineingehen.«
Das unheimliche Gefühl, das sie beschlich, als sie hörte, daß er auf diese Zeit zurückkam, beengte ihre Brust desto mehr,
je länger er dabei verweilte, obschon in der Art seiner Rückblicke nichts lag, was Besorgnis einflößen konnte. Er schien sich nur den Gegensatz seines jetzigen heiteren und glücklichen Zustandes zu den schweren Leiden der Vergangenheit vorzuführen.
»Ich sah nach ihm und machte mir dabei tausendmal Gedanken über das noch ungeborene Kind, dem man mich entrissen hatte. Lebte es noch – war es lebend ans Licht gekommen – oder hatte es der Jammer der Mutter getötet? War es ein Sohn, der mit der Zeit seinen Vater rächen würde? (Es gab während meiner Haft eine Zeit, in der mein Rachedurst unerträglich war.) War es ein Sohn, der vielleicht von meiner Geschichte nie etwas erfuhr und am Ende wohl gar auf den Gedanken kam, sein Vater sei aus der Welt geschieden durch eigenen Willen und eigene Tat? Oder war es eine Tochter, die zum Weibe heranwuchs?«
Sie zog ihn näher an sich und küßte ihn auf die Wange und auf die Hand.
»Ich habe mir meine Tochter vorgestellt, wie sie meiner ganz vergessen – oder vielmehr, wie sie nichts von mir wußte oder ahnte. Jahr um Jahr verzeichnete ich mir die Fortschritte ihres Alters. Ich sah sie mit einem Manne verheiratet, der nichts wußte von meinem Schicksal. War ich doch ganz weggewischt aus der Erinnerung der Lebenden, und in der nächsten Generation nahm bloß ein leerer Raum meine Stelle ein.«
»Mein Vater, wenn ich nur anhören soll, daß Ihr so von einer Tochter dachtet, die nicht vorhanden war, so schnürt es mir das Herz zusammen, als sei ich dieses Kind gewesen.«
»Du, Lucie? Eben aus dem Trost und der Stärkung, die ich dir verdanke, quellen solche Erinnerungen und ziehen zwischen uns und dem Monde dieses letzten Abends hin. – Was habe ich eben gesagt?«
»Sie wußte nichts von Euch. Sie kümmerte sich nicht um Euch.«
»Richtig. Aber in anderen mondhellen Nächten, wenn die Trauer und das Schweigen mich anders ansprachen und eine Art kummervollen Friedens in meine Seele ausgossen, wie das jede Erregung tun konnte, die aus meiner Qual entstand, bildete ich mir ein, sie komme in meine Zelle und führe mich hinaus aus den Kerkermauern ins Freie. Ich habe ihr Bild oft im Mondlicht gesehen, wie ich dich jetzt sehe, mit dem Unterschied, daß ich sie nie in den Armen hatte; es stand zwischen dem kleinen vergitterten Fenster und der Tür. Aber du begreifst wohl, daß es nicht das Kind war, von dem ich spreche.«
»Es war nicht die Gestalt, das – das – Bild, die Einbildung?«
»Nein. Es war etwas anderes. Es stand vor meinem verstörten Gesichtssinn, ohne sich zu bewegen. Das Phantom, das meinem Geiste keine Ruhe ließ, war ein anderes und wirklicheres Kind. Dem Äußeren nach unterschied ich weiter nichts, als daß
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