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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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ihm gelegentlich die Disharmonie seiner Umgebung mit seinem Treiben aufzufallen schien.
    Als es dunkel wurde, fragte ihn Mr. Lorry wieder wie am Tage vorher:
    »Lieber Doktor, wollt Ihr nicht ausgehen?«
    Und wie früher wiederholte er:
    »Ausgehen?«
    »Ja; mit mir einen Spaziergang machen. Warum nicht?«
    Diesmal tat Mr. Lorry, als gehe er nach verweigerter Antwort allein aus; er blieb eine Stunde weg und kehrte dann wieder zurück. In der Zwischenzeit hatte der Doktor den Sitz am Fenster eingenommen; er saß da und schaute auf die Platane hinunter. Als aber Mr. Lorry wieder eintraf, schlich er zu seiner Bank zurück.
    Die Zeit verging sehr langsam, und Mr. Lorrys Hoffnungen verdüsterten sich mehr und mehr. Das Herz wurde ihm mit jedem Tage schwerer. Der dritte kam und ging, der vierte, der fünfte. Fünf Tage, sechs Tage, sieben Tage, acht Tage, neun Tage.
    Mit immer trüberen Hoffnungen und mit immer schwerer werdendem Herzen verbrachte Mr. Lorry diese angstvolle Zeit. Das Geheimnis blieb bewahrt, und die nichts ahnende Lucie war glücklich; aber es konnte ihm nicht entgehen, daß der Schuhmacher, dessen Hand anfangs außer Übung gewesen, eine schreckliche Geschicklichkeit gewann und daß er nie so sehr sich auf seine Arbeit erpicht gezeigt, seine Finger sich nie so gewandt und hurtig erwiesen hatten als in dem Zwielicht des neunten Abends.
    Neunzehntes Kapitel
    Ein ärztliches Gutachten
    Von angstvollem Wachen erschöpft, schlief Mr. Lorry auf seinem Posten ein. Am zehnten Morgen seiner peinlichen Sorge wurde er in dem Zimmer, wo ihn bei finsterer Nacht der schwere Schlaf überwältigt hatte, durch den hellen Sonnenschein geweckt.
    Er rieb sich die Augen und richtete sich auf, konnte sich
aber dadurch nicht klarer werden, ob er nicht noch immer schlafe. Denn als er nach der Tür des Doktors hinging und hineinsah, bemerkte er, daß die Bank und die Schuhmachergerätschaften beiseite gerückt waren und der Doktor lesend am Fenster saß. Er trug seinen gewöhnlichen Morgenanzug, und sein Gesicht, das Mr. Lorry deutlich sehen konnte, hatte ungeachtet der tiefen Blässe den ruhigen, aufmerksamen Ausdruck des Studiums.
    Mr. Lorry fühlte sich, nachdem er sich von seinem eigenen Wachsein überzeugt hatte, einige Augenblicke schwindlig ungewiß, ob nicht vielleicht des Doktors Rückkehr zum Schusterhandwerk ein unruhiger Traum, eine ängstliche Ausgeburt seines eigenen Gehirns gewesen sei; denn sah er nicht mit eigenen Augen den Freund wieder vor sich im gewohnten Anzug, mit dem alten Aussehen und in seiner ordnungsmäßigen Beschäftigung, und konnte er irgendwo ein Zeichen wahrnehmen, daß der Wechsel, der einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, wirklich stattgefunden hatte?
    Doch das war nur die Frage seines ersten verwirrten Staunens; die Antwort ergab sich von selbst. Wenn jener Eindruck sich nicht auf eine entsprechende und zureichende Ursache gründete, wie kam er, Jarvis Lorry, hierher? Wie hätte er in seinen Kleidern auf dem Sofa von Doktor Manettes Ordinationszimmer einschlafen und über alle diese Dinge sich am frühen Morgen vor der Schlafzimmertür des Doktors Gedanken machen können?
    Nach einigen Minuten stand Miß Proß flüsternd an seiner Seite. Wäre noch eine Spur von Zweifel übrig gewesen, so würden ihre Worte sie vollends beseitigt haben; aber er war mittlerweile klar im Kopfe geworden und über den Zweifel weggekommen. Er meinte, man solle sich ruhig verhalten bis zur gewöhnlichen Frühstückszeit, und dann wollten sie den Dok
tor empfangen, als ob nichts Ungewöhnliches vorgefallen sei. Zeigte er dabei seine gewöhnliche Gemütsverfassung, so wollte Mr. Lorry zu weiterer Leitung und Führung vorsichtig das Gutachten einzuholen suchen, um das es ihm in seiner Bekümmernis so ängstlich zu tun gewesen war.
    Da Miß Proß sich seinem Urteil unterordnete, so wurde der Plan mit aller Sorgfalt ausgearbeitet. Mr. Lorry hatte noch reichlich Zeit zu seiner ordnungsmäßigen methodischen Toilette und präsentierte sich daher um die Frühstückszeit in seinem gewöhnlichen weißen Leinenanzug und mit seinen gewöhnlichen glänzenden Stiefeln. Der Doktor wurde wie sonst gerufen und kam zum Frühstück.
    Soweit sich aus den behutsamen Annäherungen, die Mr. Lorry allein rätlich schienen, ein Urteil bilden ließ, meinte der Doktor anfangs, daß die Hochzeit seiner Tochter erst am Tage zuvor stattgefunden habe; eine wie zufällig hingeworfene Anspielung aber auf den Wochen- und Monatstag bewog ihn

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