Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Karls V.
Diese Spiele waren freilich weit mehr als nur sportliche Wettkämpfe: Ihnen kam im Glaubenssystem der Mittelamerikaner eine zentrale Rolle zu, und unser Steingürtel ist eine Art Schlüssel zu diesen verborgenen religiösen Überzeugungen. An der Außenseite des Gürtels nämlich finden sich Verzierungen eingemeißelt, und an der gebogenen Vorderseite der Hufeisenform ist das stilisierte Bild einer Kröte in den glatt polierten Stein gehauen. Sie hat ein breites Maul, das sich über die gesamte Rundung erstreckt, und hinter den Augen knollenförmige Drüsen, die sich bis zu den gekrümmten Hinterbeinen ziehen. Zoologen haben herausgefunden, um welche Art es sich handelt, nämlich um die mexikanische Riesenkröte (
Bufo marinus
). Der Schlüssel zum Verständnis dieses Objekts liegt vermutlich darin, dass diese Kröte ein halluzinogenes Sekret absondert, und die Menschen in Mittelamerika glaubten, sie stelle eine Erdgöttin dar. Auf den Gürteln für Ballspiele finden sich verschiedene Unterwelttiere eingemeißelt, was bedeutet, dass sie nicht einzeln betrachtet werden sollten, sondern Teil eines größeren Rituals waren. Es hat den Anschein, als würde die schmerzhafte Intensitätdes Ballspiels den fortwährenden kosmischen Kampf zwischen den Kräften des Lebens und des Todes symbolisieren. Michael Whittington erklärt dazu:
«Meiner Ansicht nach handelt es sich um eine Metapher dafür, wie die Mittelamerikaner die Welt sahen. Betrachtet man eine der berühmten Schöpfungsgeschichten Zentralamerikas, den Popol Vuh, so findet man dort Zwillinge. Sie hießen Xbalanque und Hunahpuh. Sie waren Ballspieler, sie lebten in der Unterwelt, und sie spielten mit den Herren des Todes Ball. Das Spiel bestätigte immer wieder aufs Neue, wie die Mittelamerikaner sich selbst im Kosmos und im Verhältnis zu den Göttern sahen. Sie trugen also jedes Mal, wenn sie auf dem Ballspielplatz waren, ein ‹Match› zwischen den Göttern und den Herren des Todes aus.»
Das klingt auf seltsame Weise vertraut. Ob Diego Maradonas berühmt-berüchtigte «Hand Gottes», die 1986 im WM-Match zwischen Argentinien und England angeblich sein erstes Tor erzielte, der Fackellauf, der vor Olympischen Spielen stets im griechischen Olympia das Feuer entzündet und an den Ort der Spiele trägt, oder walisische Rugbyfans, die im Arms Park von Cardiff ihre Hymnen singen – Sport und Religion scheinen oftmals eng miteinander verbunden zu sein. Nur wenige Fans, die heute Schlachtgesänge anstimmen oder ihre Mannschaften mit fanatischer Begeisterung anfeuern, wissen, dass die früheste bekannte Teamsportart auf dieser Welt eine ausgeprägte religiöse Dimension hatte oder dass die Geschichte des Sports nicht in Griechenland ihren Anfang nahm, sondern in Mittelamerika.
Der Text auf der Zeichnung lautet: «Auf solche Weise spielen die Indianer mit ihrem Hinterteil mit dem aufgeblasenen Ball, ohne ihre Hände vom Boden zu nehmen; zudem haben sie ein hartes Leder um ihr Hinterteil geschnallt, für den Fall, dass es vom Ball getroffen wird, und sie tragen auch Handschuhe aus Leder.»
Doch heutige Sportler sind nicht mehr den gleichen Gefahren ausgesetzt wie ihre antiken Vorgänger. Bislang glaubte man, die unterlegene Mannschaft sei stets im Zuge eines Opferrituals getötet worden, und das passierte später tatsächlich manchmal, doch für die Zeit, aus der unser Gürtel stammt, können wir nicht sagen, was mit den Verlierern passierte. Meistens waren die Spiele für die Gemeinschaft ein Anlass, um zu feiern, zu beten, und soziale Bande zu knüpfen bzw. zu stärken. Man vermutet, dass dieses Spiel in seinen Anfängen von Männern und Frauen gespielt werden konnte, doch als die Spanier im 16. Jahrhundert auf die Azteken stießen, war es ein Spiel ausschließlich für Männer. Die Ballspielplätze waren alsheilige Orte angelegt, an denen Opfergaben vergraben wurden, was das Bauwerk selbst zu einem lebendigen Wesen machte. Die Spanier erkannten die religiöse Bedeutung dieser Plätze und wollten die alte heidnische Religion der Einheimischen durch ihren neuen katholischen Glauben ersetzen. Es ist kein Zufall, dass sie ihre Kathedrale im heutigen Mexiko City auf dem Gelände des Großen Ballspielplatzes der alten Aztekenstadt Tenochtitlán errichteten. Doch obwohl die Plätze zerstört oder aufgelöst wurden, überlebte das Spiel die brutale Eroberung Mexikos und die Zerschlagung der Aztekenkultur. Eine Form davon namens
ulama
wird noch heute gespielt
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