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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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– ein Beleg dafür, dass ein Sport, der wie dieser eine nationale Identität verkörpert, über eine enorme Überlebenskraft verfügt.
    Eines der bemerkenswertesten Charakteristika organisierter Spiele ist die ganze Geschichte hindurch ihre Fähigkeit, kulturelle Unterschiede, soziale Trennlinien und sogar politische Unruhen zu überwinden. Da sie die Grenze zwischen dem Heiligen und dem Profanen überschreiten, können sie wichtige gesellschaftliche Einiger und Spalter sein. Es gibt nur wenige Dinge, über die wir uns in unserer heutigen Gesellschaft kollektiv mehr Gedanken machen. Unser mexikanischer Zeremoniengürtel steht als eindrucksvolles Symbol dafür, wie weit Gesellschaften ihre Freude an massenhaftem, organisiertem Sport treiben können.

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Ermahnungs-Bildrolle
    Malerei, aus China
500–800 n. Chr.
    Nach Trinkgelagen und Schwulensex im frühen Römischen Reich, nach Rauchen und Ritualzeremonien in Nordamerika, nach Ballspielen und Religion in Mexiko kommen wir nun zu einer ganz anderen Art des erlesenen gesellschaftlichen Vergnügens – der Betrachtung von Malerei. Speziell geht es mir hier um ein Meisterwerk der Malerei aus China in Form einer Bildrolle, basierend auf einem Original, das in den Jahren 400 oder 500 n. Chr. gemalt wurde. Es umfasst drei verschiedene Kunstformen, die man in China ganz poetisch als «die drei Vollkommenheiten» bezeichnet: Malerei, Dichtung und Kalligraphie. Als Bildrolle war dieses Werk dazu gedacht, zusammen mit ausgewählten Freunden betrachtet zu werden, und als erlesenes Kunstwerk wurde es über Jahrhunderte von den Kaisern geschätzt. Es ist bekannt als Die Ermahnungen der Lehrerin an die Hofdamen oder kurz als Ermahnung der Hofdamen bzw. Ermahnungs-Bildrolle und stellt eine Form von antikem Knigge und vor allem moralischem Leitfaden für die Damen am chinesischen Hof dar – es erklärt mächtigen Frauen, wie sie sich zu benehmen haben.
    Aus den Objekten, die ich in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellt habe, hat sich vor allem ein übergreifender Aspekt herauskristallisiert: dass sich die Ansichten darüber, was ein akzeptables Vergnügen darstellt, verändern. Zu verschiedenen Zeiten in der Weltgeschichte wurde aus einer Lust ein Laster, aus Spaß Sünde – und umgekehrt. Doch der Genuss eines Kunstwerks wie der Ermahnung der Hofdamen war stets absolut akzeptabel, und die Bildrolle selbst enthält die Namen derjenigen, die über die Jahrhunderte das Glück hatten, sie anzuschauen und sich daran zu erfreuen.
    Der Kaiser weist seine Frau zurück.
    Die Bildrolle befindet sich in der extra eingerichteten Konservierungsabteilung für ostasiatische Malerei im Britischen Museum, wo die gesamte Rolle ausgebreitet werden kann – sie ist ungefähr dreieinhalb Meter lang. Ihre Herstellung brachte Künstler verschiedener Zeiten zusammen, und seit ihrer Fertigstellung erfreute sie sich anhaltend großer Wertschätzung. Ausgangspunkt war ein langes Gedicht, das der Höfling Zhang Hua im Jahr 292 verfasst hatte. Gut ein Jahrhundert später, um das Jahr 400 herum, fand das Gedicht Eingang in eine berühmte Malerei, die heute als verloren gilt. Die
Ermahnung der Hofdamen
wurde vermutlich 200 Jahre später vollendet, doch sie hat den Geist des berühmten Originals treu kopiert und übernommen; manche sind sogar der Auffassung, dass es sich in Wirklichkeit hier um das Originalbild handelt. Doch wie auch immer: Diese Bildrolle ist eines der berühmtesten Beispiele frühchinesischer Malerei, das uns erhalten geblieben ist.
    Gut die Hälfte der Bildrolle besteht aus gemalten Szenen, die jeweils durch Verse aus dem Gedicht voneinander getrennt sind. Da man das Bild ganz langsam entrollte, dürfte man das Gedicht gelesen und gleichzeitig jeweils nur eine Szene zu Gesicht bekommen haben; dieses allmähliche Entfalten ist ein wichtiger Teil des Vergnügens. Ein Bild zeigt eine irritierende Episode. Eine wunderschöne und verführerische Frau aus dem Harem des Hofes nähert sich dem Kaiser. Die wallenden Kleider und roten Bänder, die sie trägt, betonen die Bewegung, mit der sie kokett herbeitänzelt. Doch wenn wir genauer hinschauen, sehen wir, dass sie in Wirklichkeit taumelt: Sie ist gerade abrupt gestoppt worden durch den ausgestreckten Arm und die Hand des Kaisers, die er in einer unmissverständlichen Geste der Zurückweisung erhoben hat. Der Kaiser steht über dem fleischlichen Verlangen. Ihr Körper windet sich, als sie sich abrupt abwendet, und auf ihrem Gesicht liegt ein

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