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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Auto fährt oder sich einen neuen Fernseher zulegt, dann bestehen gute Chancen, dass zumindest eines dieser Objekte – oder wichtige Komponenten davon – in Korea hergestellt wurde. Südkorea gehört zu den «Tiger-Ökonomien» in Asien und beliefert die ganze Welt mit Hightechprodukten. Wir glauben gerne, bei dem Land handle es sich um einen neuen Akteur auf der globalen Bühne – doch die Koreaner sehen sich selbst ganz anders, denn das Land war schon immer ein wichtiger Mittler zwischen China und Japan und verfügt über eine lange Tradition technologischer Innovation. So war Korea beispielsweise ein Vorreiter bei den beweglichen metallenen Lettern und kannte die Drucktechnik lange, bevor sie in Europa entwickelt wurde. Was, abgesehen von der Technologie, ebenfalls jeder über Korea weiß, ist, dass das Land seit dem Ende des Koreakriegs 1953 streng geteilt ist in einen kommunistischen Norden und einen kapitalistischen Süden.
    Dieser Dachziegel stammt aus dem Korea um das Jahr 700 herum, als der frisch geeinte Staat einen enormen Aufschwung erlebte. Dieser Moment in der Geschichte des Landes wird heute im Norden und im Süden völlig unterschiedlich interpretiert, aber ihm kommt für jede moderne Definition koreanischer Identität noch immer eine tragende Rolle zu.
    Um 700 war Korea bereits ein wohlhabendes, urbanisiertes Land, ein wichtiger Handelspartner am Ende der berühmten Seidenstraße. Doch dieses Objekt besteht nicht aus wertvoller Seide, sondern aus billigem Ton – gleichwohl verrät uns dieser Stoff eine Menge über Koreas «goldenes Zeitalter».
    Einer der faszinierendsten Aspekte dieser Zeit ist das Phänomen, dass sich anbeiden Rändern der eurasischen Landmasse ähnliche politische Entwicklungen vollzogen. Stämme und kleine Königreiche verschmolzen zu größeren Einheiten, die schließlich zu einer Art Nationalstaaten wurden, wie wir sie heute kennen: Das geschah auf der einen Seite in England und Dänemark, auf der anderen Seite in Japan und Korea. Für all diese Länder waren das entscheidende Jahrhunderte.
    Die zwischen dem Nordosten Chinas und Japan gelegene koreanische Halbinsel war, wie zur gleichen Zeit auch England, in konkurrierende Königreiche zersplittert. Im Jahr 668 eroberte das südlichste Königreich der Silla mit Unterstützung der Tang-Dynastie in China – damals wie heute eine regionale Supermacht – seine Nachbarn und begründete seine Herrschaft von weit im Süden bis in die Gegend nördlich des heutigen Pjöngjang. Der äußerste Norden (an der Grenze zum heutigen China) gelangte nie unter seine Kontrolle, doch für die nächsten 300 Jahre herrschte das vereinte Königreich Silla mit seiner Hauptstadt Kyongju im Süden, einer Stadt mit prächtigen neuen Bauten, über den Großteil des heutigen Korea. Die Keramikschindel im Britischen Museum stammt von einem dieser neuen Gebäude, in diesem Fall von einem Tempel, und sie verrät uns eine Menge über die Errungenschaften und Bestrebungen des noch jungen Silla-Staates in der Zeit um 700.
    Die Schindel hat in etwa die Größe eines altmodischen Dachziegels – knapp 30 mal 30 Zentimeter – und besteht aus schwerem, cremefarbenem Ton. Der obere Rand und die beiden Seiten sind mit einer etwas groben Randverzierung versehen, und aus der Mitte starrt den Betrachter ein furchteinflößendes Gesicht mit platt gedrückter Nase, Glotzaugen, kleinen Hörnern und jeder Menge Tasthaaren an. Es sieht aus wie eine Mischung aus einem chinesischen Drachen und einem Pekinesen. Der Dachziegel ähnelt denen, die zur gleichen Zeit im China der Tang-Dynastie hergestellt wurden, ist jedoch eindeutig kein chinesisches Objekt. Anders als beim breiten Grinsen eines chinesischen Drachen ist das Maul hier klein und aggressiv – und die Modellierung des Ziegels weist eine rohe, ungezügelte Vitalität auf, die gänzlich unchinesisch ist.
    Das Wesen sieht ein wenig wie ein orientalischer Wasserspeier aus – und genau das war es wohl auch. Es dürfte sich an ganz ähnlichem Ort befunden haben, nämlich hoch oben auf einem Tempel oder einem großen Haus. Die Gesichtszüge sind recht grob, und der Schindel wurde offensichtlich gefertigt, indemman feuchten Lehm in eine ziemlich schlichte Form presste. Wir haben es eindeutig mit einem massenhaft produzierten Objekt zu tun, aber gerade darum ist es so interessant; es handelt sich um eine von Zehntausenden von Schindeln, die für Dächer bestimmt waren, welche einst schilfgedeckt waren, nun aber, im

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