Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
die Größe einer Computertastatur hat. Die Figuren sind relativ schlicht in Schwarz und Weiß gehalten, nur hier und da finden sich rote und blaue Einsprengsel. Als Kunstwerk taugt das Ganze nicht wirklich, aber als solches war es auch nie gedacht; die Malerei sollte vielmehr als eine
aide-mémoire
dem Geschichtenerzähler dabei helfen, seine Geschichte zu erzählen. Genau in der Mitte befindet sich die Seidenprinzessin persönlich mit ihrem großen und markanten Kopfschmuck. Um sicherzustellen, dass wir diesen Kopfschmuck auch als den Mittelpunkt der Geschichte erkennen, deutet eine Dienerin zur Linken mit ihrer Hand unübersehbar darauf. Anschließend dürfte der Geschichtenerzähler verraten haben, dass sich darin alles befindet, was man braucht, um Seide herzustellen: die Seidenspinnerraupen, die Seidenkokons, die sie produzieren, und Maulbeersamen – denn die Seidenraupen verspeisen die Blätter des Maulbeerbaums. Dann sehen wir, vor der Prinzessin, was als Nächstes geschieht: Die Seidenkokons stapeln sich in einem Korb und ganz rechts verwebt ein Mann die Seidenfäden zu einem Stück Stoff. Die Prinzessin ist offenbar wohlbehalten in Khotan angekommen, und ihre List hat funktioniert. Diese Geschichte, die hier grob in drei Szenen erzählt wird, ist eineigentümliches Zeugnis dafür, wie Wissen und Fertigkeiten von Ost nach West wandern.
Wir wissen seit langem, dass die Seidenstraße für die Wirtschafts- und Geisteswelt des 8. Jahrhunderts von enormer Bedeutung war, doch ihren romantischen Ruf erwarb sie sich erst vor relativ kurzer Zeit, wie der Reiseschriftsteller und Romancier Colin Thubron zu berichten weiß:
«Die historische Bedeutung der Seidenstraße ist kaum hoch genug einzuschätzen, vor allem im Hinblick darauf, welche Mengen an Menschen und Waren sich auf ihr bewegten, wie viele Erfindungen und Ideen auf ihr transportiert wurden – und natürlich was ihren Beitrag zur Ausbreitung von Religionen angeht. Ob der Buddhismus, der aus dem Norden Indiens kam und Richtung Osten nach China wanderte, oder das Vordringen des Islam bis tief hinein nach Asien – all das gäbe es ohne die Seidenstraße nicht.
Der Begriff ‹Seidenstraße› wurde übrigens erst 1887 von einem deutschen Geographen namens Ferdinand von Richthofen geprägt. Vorher trug sie diesen Namen nicht, doch von nun an verband sich mit ihr all die Romantik der Seide, ihrer Schönheit und ihres Luxus.»
Rätsel und Geheimnisse befördern oft Geschichten, mit denen man sie zu erklären versucht, und da die Seide das bei weitem wichtigste Produkt war, das auf diesen Routen unterwegs war, gebar das Geheimnis ihrer Herstellung unvermeidlich seinen eigenen Mythos. Die Seide, dieses luxuriöse, wundervolle und dauerhafte Produkt, kann beinahe als Synonym für das Land gelten, das sie vor über 4000 Jahren erstmals herstellte und lange Zeit über das Monopol darauf verfügte – das alte China. Lange vor der Entstehung des Römischen Reiches wurde in China Seide im industriellen Maßstab produziert und exportiert. Die Methode zu ihrer Herstellung war ein wohlgehütetes Geheimnis; doch wie alle profitablen Geheimnisse blieb auch dieses auf Dauer keines, und zu den Nutznießern zählte unter anderem Khotan.
Doch zurück zu unserem bemalten Brett: In der Geschichte kommt noch eine vierte Figur vor, ein Mann mit vier Armen, der Kamm und Schiffchen eines Seidenwebers in Händen hält. Er ist der Gott der Seide, der über der ganzen Szenerie thront, der dem Ganzen seinen spirituellenSegen gibt und dafür sorgt, dass wir die Prinzessin nicht als Industriespionin betrachten, sondern als mutige Wohltäterin. Und damit erhält das Märchen den Rang eines Mythos: Die Seidenprinzessin steht vielleicht nicht auf einer Stufe mit Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl, aber sie reiht sich ein in die Riege großer mythologischer Geschenkgeber, die einem bestimmten Volk Wissen und Fertigkeiten bringen.
Die Seidenprinzessin, der Gott der Seide und ein Arbeiter, der eifrig Seidenfäden verwebt (von links nach rechts).
Die schriftliche Version unserer Bildergeschichte berichtet uns, was anschließend geschah: Die Prinzessin stattete den Göttern Dank ab und sorgte dafür, dass Khotan die Geheimnisse der Seide auf ewig für sich behielt:
«Dann gründete sie dieses Kloster an genau der Stelle, an der die ersten Seidenraupen geschlüpft waren; und dort finden sich auch die Stümpfe vieler alter Maulbeerbäume, die, wie es heißt, noch von den ersten
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