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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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prosperierenden Silla-Reich, mit Objekten wie diesen gedeckt wurden.
    Die Korea-Expertin Jane Portal erklärt, warum die Silla eine so prächtige Hauptstadt wie Kyongju errichten wollten und warum sie so viele neue Häuser brauchten:
    «Die Stadt Kyongju war der chinesischen Hauptstadt Chang’an nachempfunden, der damals größten Stadt der Welt, und wuchs rasch, sobald der Großteil der koreanischen Halbinsel unter dem Königreich Silla geeint war. Eine Vielzahl an Adligen aus den Königreichen, die von Silla unterworfen worden waren, mussten nach Kyongju kommen und dort leben, und sie bewohnten ausladende, prächtige Häuser mit ziegelgedeckten Dächern. Das war neu, und so dürfte dieser Dachziegel eine Art Statussymbol gewesen sein.»
    Dachschindeln waren nicht nur deshalb gefragt, weil sie in der Herstellung teuer waren, sondern weil sie anders als das traditionelle Schilf nicht Feuer fingen; brennende Schilf- oder Strohdächer waren für jede antike Stadt die größte Bedrohung. Eine Stadt mit Ziegeldächern war hingegen sicher, und so ist es nur zu verständlich, wenn ein koreanischer Beobachter aus dem 9. Jahrhundert, der die Pracht der Stadt auf dem Höhepunkt ihres Wohlstands pries, angesichts ihrer Dächer ins poetische Schwärmen geriet:
    «Die Hauptstadt Kyongju bestand aus 178.936 Häusern … Es gab eine Villa und einen Lustgarten für jede der vier Jahreszeiten, wohin sich die Adligen zurückzogen. Häuser mit Ziegeldächern reihten sich eins ans andere, und weit und breit war kein Reetdach zu sehen. Sanfter Regen fiel und brachte wohligen Segen und reiche Ernten.»
    Doch dieser Dachziegel sollte nicht nur vor dem «sanften Regen» schützen. Das war die Aufgabe prosaischerer, nicht verzierter Schindeln, die das ganze Dach bedeckten. Unser Drache hingegen saß am verzierten Ende eines Dachfirsts und starrte von dort aus über die Stadt, denn er war dazu da, ein unsichtbares Gewimmel feindlicher Geister und Gespenster fernzuhalten – er sollte also nicht nur vor dem Wetter, sondern auch vor den Mächten des Bösen beschützen.
    Der Drache auf unserem Dachziegel war in gewissem Sinne nur ein ein facher Fußsoldat in der großen Schlacht der Geister, die auf Höhe des Dachfirsts, weit über den Straßen von Kyongju, unablässig tobte. Er war nur eine von vierzig verschiedenen Klassen von Schutzwesen, die einen Verteidigungsschild gegen feindliche Geisterangriffe bildeten und jederzeit zum Schutz von Bevölkerung und Staat in Stellung gebracht werden konnten. Doch unten auf der Erde gab es andere Bedrohungen: Innerhalb des Staates gab es stets potenzielle Aufrührer – beispielsweise die Adligen, die gezwungenermaßen in Kyongju lebten –, und an der Küste lauerten die japanischen Piraten. Ein Drache konnte dem einen Haushalt Schutz bieten, aber jeder Silla-König hatte mit einem großen und anhaltenden politischen Problem fertigzuwerden, gegen das selbst drachenbewehrte Dachziegel nichts ausrichten konnten: wie man im drohenden Schatten des mächtigen Nachbarn, des China unter der Tang-Dynastie, die eigene Handlungsfreiheit wahrte.
    Die Chinesen hatten die Silla bei ihrem Feldzug zur Einigung Koreas unterstützt, doch das war von China nur als Vorspiel gedacht gewesen, um das Königreich später dann selbst zu übernehmen; also musste der Silla-König sowohl wendig als auch resolut sein, um sich den chinesischen Kaiser vom Leib zu halten und gleichzeitig die politische Allianz aufrechtzuerhalten. In kultureller Hinsicht dauerte dieser heikle Balanceakt zwischen Abhängigkeit und Autonomie noch Jahrhunderte fort und stellt bis heute ein Kernelement koreanischer Außenpolitik dar.
    In der Geschichte Koreas gilt das vereinte Königreich Silla, das da am Ende der Seidenstraße ein prosperierendes und sicheres Dasein genoss, als eine der bedeutenden Epochen in Sachen Kreativität und Gelehrtheit, als «goldenes Zeitalter» für Architektur und Literatur, Astronomie und Mathematik. Furchteinflößende Drachenschindeln wie diese prägten noch lange das Dächerbild in Kyongju und darüber hinaus, und das Vermächtnis der Silla-Zeit lässt sich in Korea noch heute besichtigen, wie uns Choe Kwang-shik erklärt, der Generaldirektor des koreanischen Nationalmuseums:
    «Der kulturelle Aspekt des Dachziegels ist in der Kultur Koreas noch immer lebendig. Besucht man heute die Stadt Kyongju, findet man die Muster nach wie vor, etwa auf den Straßen. Das Artefakt ist also in dieser Hinsicht antik geworden,aber es

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