Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
hier gepflanzten Bäumen stammen. Seit alters her und bis heute besaß dieses Königreich Seidenraupen, die niemand töten darf.»
Die Seidenproduktion ist noch immer ein wichtiger Industriezweig in Khotan, der über tausend Arbeiter beschäftigt und pro Jahr gut 150 Millionen Meter an Seide produziert, ob als Stoff, Kleidung oder Teppich.
Selbstverständlich haben wir keine Ahnung, wie die Seide wirklich nach Khotan kam, aber wir wissen, dass Ideen, Geschichten, Götter und Seide auf der Seidenstraße in beiden Richtungen unterwegs waren. Der Cellist und Komponist Yo-Yo Ma beschäftigt sich schon seit langem mit der Seidenstraße:
«Besonders interessiert mich dabei, wie Musik dort möglicherweise gereist ist. Tonaufnahmen haben wir erst aus den letzen hundert Jahren, also muss man sich an die mündlichen Überlieferungen und andere Formen der Ikonographie halten, wie man sie in Museen, in Geschichten findet, um sich so ein Bild zu machen, wie Dinge hin und her gehandelt wurden, und das betrifft Ideen genauso wie materielle Objekte. Je genauer man etwas betrachtet, die Ursprünge, denen Dinge entstammen, desto eher wird man Elemente der Welt im Lokalen finden. Das klingt nach großen Gedanken, tatsächlich aber reduziert sich das auf ganz gewöhnliche Objekte – Geschichten, Legenden, Materialien –, und zu diesen Geschichten gehört auch die Seide.»
Ich verwende das bemalte Brett hier so, wie es ursprünglich gedacht war: als ein Vehikel, ein Hilfsmittel fürs Geschichtenerzählen. Wer genau es damals benutzthat, wissen wir nicht, aber was wir wissen, ist, dass Aurel Stein von dem Schrein, in dem er es gefunden hatte, überrascht und bewegt war:
«Diese bemalten Tafeln befanden sich wie all die anderen, die wir später gefunden haben, … ohne Zweifel noch immer an genau der Stelle, an der sie ursprünglich von frommen Besuchern als Votivgaben abgelegt worden waren. An die letzten Tage der Andacht an diesem kleinen Schrein erinnerten eindringlich weitaus profanere, aber gleichermaßen berührende Relikte. Auf dem Boden der Hauptkammer entdeckte ich in den Ecken mehrere antike Besen, die von den letzten Besuchern offenbar dazu benutzt wurden, um die heiligen Objekte von dem eindringenden Staub und Sand zu säubern.»
Diese Besen hielten nicht nur die Malerei mit der Seidenprinzessin sauber – dieser buddhistische Schrein enthielt auch gemalte Darstellungen von Buddha und den Hindugöttern Shiva und Brahma. Andere Schreine in diesem Komplex weisen Bilder von buddhistischen, hinduistischen und iranischen Göttern, aber auch von eindeutig lokalen Gottheiten auf. Die vielen Götter, die auf der Seidenstraße unterwegs waren, waren – nicht anders als die Händler – froh, eine gemeinsame Unterkunft zu finden.
Teil XI
Im Innern des Palastes: Geheimnisse bei Hofe
700–900 n. Chr.
Diese Abteilung erforscht das Leben an großen
königlichen Höfen auf der ganzen Welt anhand von
Objekten, die intimer, privater Ausdruck von öffentlicher
Macht waren. Wenngleich in den unterschiedlichsten Kontexten
angefertigt, dienten alle diese Objekte den Herrschern der Welt dazu, das
Ausmaß ihrer Autorität vor sich selbst, vor ihren Höflingen und vor ihren
Göttern immer wieder von neuem unter Beweis zu stellen. Sie waren aber
auch Zeugen der ganz realen Verpflichtungen, die mit dieser Autorität
verbunden waren, und machen diese mitunter spürbar. Die Kulturen der
Tang-Dynastie in China, das islamische Reich und die Maya in
Mittelamerika befanden sich während dieser Jahrhunderte alle auf
ihrem Höhepunkt. Obwohl das mittelalterliche Europa wirre Zeiten
durchlitt, brachte es zuweilen große künstlerische Leistungen
hervor wie etwa jene am Hof des fränkischen Kaisers.
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Maya-Relief eines königlichen Blutrituals
Steinrelief aus Yaxchilan (Chiapas), Mexiko
700–750 n. Chr.
Es ist hart an der Spitze – zumindest ist es das, was diejenigen, die sich an der Spitze befinden, uns glauben machen wollen. Die langen Arbeitstage, die öffentliche Zurschaustellung, die Verantwortung. Als Gegenleistung, so würden die meisten von uns einwenden, erhalten sie Status und Bezahlung – und viele Menschen, so scheint es, sind bereit, sich auf diesen besonderen Handel einzulassen. Aber fast jeder würde es sich zweimal überlegen, jemanden zu beneiden, wie privilegiert dieser auch immer gewesen sein mochte, dessen reguläre Pflicht es war, eine Prozedur wie die hier dargestellte über sich ergehen zu lassen. Mir fällt es
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