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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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schon schwer, allein das Bild anzusehen.
    Es ist ein in Kalkstein gemeißeltes Relief, etwa von der Größe eines Couchtisches. Es ist rechteckig und zeigt zwei menschliche Figuren. Ein stehender Mann hält eine lodernde Fackel über der knienden Gestalt einer Frau. Beide sind aufwendig gekleidet, mit wundervoll extravagantem Kopfschmuck. So weit, so harmlos. Aber wenn Sie die Frau näher betrachten, wird die Szene wirklich sehr beunruhigend, weil Sie sehen können, dass sie ein Seil durch ihre Zunge zieht – und das Seil ist mit breiten Dornen gespickt, die sie durchbohren und aufschlitzen.
    Mein empfindliches europäisches Auge kommt nur schwer über dieses erschütternde Geschehen hinweg, aber für die Maya der Zeit um 700 wäre das eine Szene gewesen, in der ihr König und seine Frau zusammen in einer hingebungsvollen Partnerschaft zu sehen sind, im Begriff, gemeinsam eine für ihre Stellung und Macht tief bedeutsame Zeremonie zu begehen. Der König gab dieses Relief für die Privatgemächer der Königin in Auftrag, und es sollte sicherlich nur von einigen wenigen Auserwählten gesehen werden.
    Die großartige Maya-Kultur zerfiel nicht lange, nachdem diese Steinplatte gemeißelt worden war, und ihre ausgestorbenen Städte versetzten die ersten spanischen Besucher im 16. Jahrhundert in Verwirrung. Jahrhunderte später stießen Forscher, die Mexiko und Guatemala bereisten, auf riesige verlassene Siedlungen, versteckt im dichten Dschungel. Einer der ersten neuzeitlichen Besucher, der Amerikaner John Lloyd Stephens, versuchte sein Erstaunen 1839 in Worte zu fassen:
    «Ich werde nicht vorgeben, von der erhabenen Wirkung der Bauwerke selbst auch nur eine Ahnung vermitteln zu können. Sie stehen in den Tiefen des Regenwaldes, still und feierlich, anders als die Werke jedes anderen Volkes, ihrem Nutzen und Zweck nach und in ihrer ganzen Geschichte so vollkommen unbekannt, mit Hieroglyphen besetzt, die alles erklären, und doch so ganz und gar unbegreiflich.»
    Das Gebiet der Maya erstreckte sich über das heutige Honduras, Guatemala, Belize und das südliche Mexiko. Die Anfänge der ersten Maya-Städte gehen zurück auf die Zeit etwa um 500 v. Chr., kurz bevor der Parthenon in Athen gebaut wurde, und die Maya-Kultur hatte über gut tausend Jahre Bestand. Die größten Städte zählten mehrere Zehntausend Einwohner, und ihre Zentren bestanden aus Pyramiden, öffentlichen Bauten und Palästen. Dank der noch nicht sehr l ange zurückliegenden Entschlüsselung der Maya-Schrift können wir heute die Zeichen auf ihren Monumenten, die Stephens so sehr verwirrten, lesen wie die Namen und Geschichten gegenwärtiger Machthaber. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hörten die Maya auf, als sagenumwobenes, verschwundenes Volk zu gelten, und wurden als historische Zivilisation begriffen.
    Unsere Steinskulptur der Königin, die ihre Zunge zerfleischt, stammt aus der Stadt Yaxchilan. Zwischen 600 und 800, spät in der klassischen Zeit der Maya-Zivilisation, wurde Yaxchilan eine große und wichtige Stadt und die bedeutendste Macht der Region. Sie verdankte ihren neugewonnenen Ruhm dem auf dem steinernen Relief gezeigten König, Schild-Jaguar, der im Alter von 75 Jahren ein Bauvorhaben in Auftrag gab, um die Erfolge seiner bald vollendeten sechzigjährigen Regentschaft zu feiern. Dieser skulptierte Türsturz stammt von einem Tempel, der offenbar seiner Ehefrau, Herrin K’abal Xook, gewidmet war.
    Die Königin schaut die Vision einer heiligen Schlange und eines Ahnenkriegers.
    Im Relief sind König Schild-Jaguar und seine Frau beide prächtig gekleidet. Ihr spektakulärer Kopfschmuck bestand vermutlich aus Jade- und Muschelmosaiken, besetzt mit den schimmernden grünen Federn des Quetzalvogels. Oben auf dem Kopfschmuck des Königs können Sie den geschrumpften Kopf eines vormals Geopferten sehen, möglicherweise ein besiegter feindlicher Anführer. Auf seiner Brust trägt der König ein Ornament in Form des Sonnengottes, seine Sandalen bestehen aus geflecktem Jaguarfell, und um seine Knie sind mit Jade besetzte Bänder gewunden. Seine Frau trägt besonders kunstvoll ausgearbeitete Halsketten und Armbänder.
    Dieses Bild ist eines von dreien, die im Tempel gefunden wurden. Jedes von ihnen befand sich über einem Eingang. Gemeinsam verdeutlichen sie, dass die Königin, indem sie sich Dornen durch die Zunge zog, bis ihr Blut floss, nicht nur ein Opfer darbrachte, sondern dass dieses Ritual bewusst ausgeübt wurde, um intensiven Schmerz

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