Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
der Millionen von Menschen gelebt hatten, war am Ende ausgestorben, wie es scheint. Warum das passiert ist, bleibt unklar.
Umwelteinflüsse sind eine beliebte Erklärung – einiges deutet auf eine langanhaltende Dürre hin, und angesichts der Bevölkerungsdichte könnte der Mangel an Ressourcen infolge einer Dürre katastrophale Folgen gehabt haben. Aber das Volk der Maya verschwand nicht. Maya-Siedlungen blieben in mehreren Gebieten erhalten, und eine funktionierende Maya-Gesellschaft bestand weiter bis zur spanischen Eroberung. Heute gibt es ungefähr sechs Millionen Mayas, und ihr Traditionsbewusstsein ist höchst ausgeprägt. Neue Straßen ermöglichen nun den Zugang zu den ehemals «versunkenen» Städten – Yaxchilan, von wo unsere Skulptur stammt, war einst nur mit leichten Flugzeugen oder durch eine Flussreise über Hunderte von Kilometern zu erreichen, aber seit den 1990er Jahren ist dieser Ort von der nächsten Stadt nur eine Bootsstunde entfernt und eine große Touristenattraktion. Erst 1994, als die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, wie sie sich selbst nannte, dem mexikanischen Staat den Krieg erklärte, gab es einen Maya-Aufstand. Diese Unabhängigkeitsbewegung erschütterte das moderne Mexiko tief. «Wir befinden uns in der neuen ‹Ära der Maya›», proklamierte eine lokale Kundgebung, während Statuen der spanischen Eroberer umgestürzt und zu Schutt zerschlagen wurden. Heute berufen sich die Maya auf ihre Vergangenheit, um ihre Identität neu zu definieren, und um ihren Bauwerken und ihrer Sprache wieder zu einer zentralen Rolle im staatlichen Leben zu verhelfen.
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Wandmalereien aus einem Harem
Fragmente einer Wandmalerei aus Samarra, Irak
800–900 n. Chr.
Die Welt der Märchen aus
Tausendundeine Nacht
– die 1001 Geschichten, die der Legende nach von der schönen Scheherazade erzählt wurden, um den König davon abzuhalten, sie zu töten – führt uns in den Orient, zwölf Jahrhunderte vor unserer Zeit:
«Als die Nacht gekommen war, versammelten sich die Mädchen um mich. Fünf von ihnen erhoben sich, bereiteten ein Festessen für mich zu und stellten Teller mit Nüsschen, duftenden Substanzen und Obst daneben. Schließlich brachten sie einen Weinkelch. Wir setzten uns alle, um zu trinken. Sie saßen um mich herum, einige von ihnen sangen, andere spielten Liebeslieder auf der Hirtenflöte, wieder andere schlugen die Laute und die Zither und alle anderen Musikinstrumente. Dabei kreisten Becher und Tassen zwischen uns, und mich ergriff eine solch große Freude, dass ich allen Kummer der Welt vergaß. ‹Ist das ein Leben!› dachte ich. ‹Ach, wenn es doch nie zu Ende ginge!› Auf solche und ähnliche Weise verbrachte ich mit ihnen die Zeit, bis die Nacht fast vergangen war und wir schon ganz trunken waren. ‹Liebster Herr›, sagten sie da zu mir, ‹jetzt wähle eine von uns aus, die heute nacht bei dir schlafen soll›.»
So unterhielt Scheherazade den König mit süß quälenden Erzählungen, die sich immer fortsetzten.
Heute kennen wir die Märchen aus
Tausendundeine Nacht
meist durch die verzerrenden Filter von Hollywood- und Märchenfilmen. Sie bieten ein Kaleidoskop von Charakteren auf – Sindbad, Aladdin und der Dieb von Bagdad; Kalifen und Zauberer, Wesire und Kaufleute; und zahlreiche Mädchen, viele von ihnen Sklavinnen, aber doch mit Talenten ausgestattet und freimütig. Wir sehen sie alleinmitten der gewaltigen, belebten Szenerien der großen muslimischen Städte von damals: natürlich Bagdad in seiner Blütezeit, aber auch Kairo und, am wichtigsten für diese Bilder, Samarra, die Stadt, die nördlich von Bagdad im heutigen Irak den Fluss Tigris umgibt.
Auch wenn wir die Märchen aus
Tausendundeine Nacht
als exotische Fiktion betrachten, erzählen sie uns doch eine Menge über das wirkliche Leben an den Höfen der abbasidischen Kalifen, den obersten Herrschern des riesigen islamischen Reiches, das sich vom 8. bis zum 10. Jahrhundert über Zentralasien bis nach Spanien erstreckte. Der Historiker Robert Irwin schrieb einen Begleittext zu den Märchen aus
Tausendundeine Nacht
und spürte ihren verschiedenen geschichtlichen Bezügen nach:
«Einige dieser Geschichten spiegeln die Wirklichkeit Bagdads im achten und neunten Jahrhundert. Die abbasidischen Kalifen beschäftigten eine Gruppe von Leuten, die Nudama genannt wurden – professionelle Trinkkumpane, deren Aufgabe es war, dem Kalifen Gesellschaft zu leisten, während er aß und trank, und ihn mit
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