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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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erbaulichen Nachrichten, Witzen, Gesprächen über das Essen und Geschichten bei Laune zu halten.
    Der Palast war eine geschlossene Gesellschaft. Nur wenige Menschen wagten sich hinter seine Mauern, und der Legende nach nahm ein frommer Moslem sein Totenhemd mit, als er beim Kalifen vorgeladen war – das gewöhnliche Volk fürchtete sich sehr vor dem, was hinter den Mauern der Kalifenpaläste vor sich ging. Ich sage bewusst ‹Paläste›, denn die abbasidischen Kalifen scheinen diesen gegenüber eine eher gleichgültige Haltung an den Tag gelegt zu haben. Sobald sich einer von ihnen abgenutzt hatte, begannen sie, einen neuen zu bauen und verließen den alten. So entstanden in Bagdad eine Reihe von Palästen, die einander ablösten, bis die Abbasiden nach Samarra zogen, wo sich das gleiche abspielte.»
    Die meisten der Abbasiden-Paläste, sowohl in Bagdad als auch in Samarra, sind heute Ruinen. Aber einige Teile existieren noch immer. Im Britischen Museum haben wir einige Fragmente des bemalten Wandverputzes aus den Haremsgemächern eines abbasidischen Kalifen, die uns ins Herz des islamischen Reiches im 9. Jahrhundert entführen und uns die realen Ebenbilder der Mädchen aus
Tausendundeine Nacht
offenbaren. Für mich enthalten diese Fragmente mehr Zauber als jeder Film. Sie sind berückende Streifblicke aus fernen Jahrhunderten und könnten selbst 1001 Geschichten zum Leben erwecken.
    Die kleinen Porträts zeigen vermutlich alle Frauen, obwohl es sich bei manchen vielleicht auch um junge Männer handelt. Sie sind Teile einer größeren Wandmalerei, und sie verbinden uns direkt mit dem mittelalterlichen Irak. In Bagdad selbst existiert kaum mehr ein Bauwerk aus dieser prächtigen Ära um 800, da die Stadt später von den Mongolen zerstört wurde. Aber glücklicherweise können wir uns immer noch eine ziemlich gute Vorstellung davon machen, wie der Abbasiden-Hof ausgesehen hat, denn für einen Zeitraum von fast 60 Jahren wurde seine Hauptstadt das neu errichtete Samarra, rund 100 Kilometer weiter nördlich, und große Teile des alten Samarra haben sich bis heute erhalten.
    Auf den ersten Blick scheinen diese Bilder keiner näheren Betrachtung wert zu sein – sie sind wirklich nur Bruchstücke einer Malerei, und das umfangreichste ist nicht größer als eine CD. Sie sind ziemlich einfach gezeichnet, mit schwarzen Umrisslinien auf einem ockergelben Hintergrund, mit nur wenigen skizzenhaften Strichen, die die wichtigsten Züge einfangen, aber einige goldene Flecken in der Malerei lassen uns ihr einstmals opulentes Erscheinungsbild erahnen. Gleich den zusammengewürfelten Teilen eines Puzzles machen sie es einem schwer zu erraten, wie das größere Bild, dem sie entstammen, ausgesehen haben mag. Tatsächlich handelt es sich nicht bei allen um Porträts – einige der Fragmente zeigen Tiere, einige zeigen Ausschnitte von Gewändern und Körperteilen. Aber hinter den Gesichtern, die hier festgehalten sind, wird eine bestimmte Persönlichkeit spürbar – ein deutlicher Schimmer von Melancholie zeigt sich in den Augen, wenn sie uns aus ihrer ganz eigenen, fernen Welt anblicken.
    Diese kleinen Teile aus einem Wandverputz wurden von Archäologen in den Ruinen des Dar al-Khilafa-Palasts ausgegraben, der die wichtigste Residenz des Kalifen in Samarra und das zeremonielle Herz der zu diesem Zwecke neu errichteten Hauptstadt war. Ein Ort der Freude wurde erbaut, wie allein schon der Name der Stadt verhieß, der am Hof als verkürzte Form von «Surra Man Ra’a» – «Derjenige, der sie sieht, wird erfreut» gedeutet wurde. Aber unter der Oberfläche dieser ausgelassenen Fröhlichkeit braute sich Unheil zusammen. Die Entscheidung von 836, den Hof von Bagdad nach Samarra zu verlegen, war getroffen worden, um gefährliche Spannungen zwischen der bewaffneten Garde des Kalifen und den Einwohnern Bagdads zu entschärfen – Spannungen, die schon eine Reihe von Aufständen entfacht hatten. Samarra war dazu bestimmt, sowohleinen sicheren Ort für den Hof als auch eine stabile Basis für die Armee des Kalifen zu bieten. Die neue Stadt Samarra wurde im großen Stil errichtet, mit – gemessen an den Standards jeden Zeitalters – gigantischen Palästen, deren Bau riesige Summen verschlang; mehr als 6000 verschiedene Gebäude sind identifiziert worden. Eine zeitgenössische Beschreibung vermittelt einen Eindruck von der spektakulären Erscheinung eines der Paläste des Kalifen al-Mutawakkil, dem vielleicht größten Bauherrn aller

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