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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Welt noch immer in einigen uns vertrauten Worten, die die Erfahrung und die Kultur der Taino wiedergeben: Hurrikan, Barbecue, Kanu und Tabak. Das sind im karibischen Umfeld alltägliche Dinge, aber der materielle Erhalt von Dingen aus der Taino-Welt, wie der
Duho
-Sitz, gibt Zeugnis vom universellen menschlichen Bedürfnis, Verbindung aufzunehmen mit dem, was über das Irdische hinausgeht, mit der Welt der Geister und Götter. Dieses beständige menschliche Streben vereint die Objekte der folgenden Abteilung.

Teil XIV
Begegnung mit den Göttern
1200–1500 n. Chr.
    In allen Religionen der Welt haben Objekte
dazu gedient, die Kluft zwischen dem Menschlichen
und dem Göttlichen zu überbrücken und die Zwiesprache
zwischen Menschen, Gemeinden oder gar Staaten und ihren
Göttern zu erleichtern. In der christlichen Kirche des Westens drängten
sich Pilger in Scharen vor den Schreinen, um Reliquien, darunter auch die
Körperteile von Heiligen, zu bestaunen. Die orthodoxen Christen des Ostens
verehrten Bilder von Jesus Christus und den Heiligen in Form von Ikonen. Bei
den Hindus in Indien traten die Gläubigen über Tempelstatuen in eine
persönliche Verbindung zu bestimmten Gottheiten. Die mexikanischen
Huaxteken beteten vor Statuen der Muttergöttin um innere Reinigung und
Vergebung. Die Bewohner der pazifischen Osterinsel veränderten ihre
Religion so, dass sich darin die Verschlechterungen ihrer
Lebensbedingungen spiegelten: Sie hörten auf, ihren Vorfahren
Statuen zu errichten, und schufen stattdessen einen Kult
um die schwindende Vogelpopulation der Insel.



66
Dornenreliquiar
    Reliquienbehälter aus Gold, Edelsteinen und Email, aus Paris, Frankreich
1350–1400 n. Chr.
    Vor 600 Jahren waren Religion und Politik rund um den Erdball so eng miteinander verflochten, dass die meisten Menschen unmöglich hätten sagen können, wo das eine aufhörte und das andere begann. Vielleicht erklärt das, warum unirdische Wünsche und Hoffnungen so oft in irdischem Reichtum – in Kirchenbauten und kostbaren Objekten – ihren Ausdruck fanden. Besonders deutlich tritt dieses Paradox in der Dornenkronenreliquie zutage. Der Reliquienschrein wurde als Behältnis zur Präsentation eines Dorns gefertigt, von dem man annahm, dass er von der Dornenkrone stammte, die Christus vor der Kreuzigung aufs Haupt gedrückt worden war – eine Reliquie von höchster Heiligkeit.
    Die Krone selbst wird heute in der Kathedrale Notre-Dame de Paris aufbewahrt, befand sich aber ursprünglich in der Sainte-Chapelle, der Schlosskirche der französischen Könige, die um 1240 errichtet worden war, um die kostbarsten Objekte Europas zu beherbergen – deren kostbarstes ganz ohne Frage die Dornenkrone war. Für die Christen des Mittelalters bestand der Sinn des Lebens im Diesseits vor allem darin, das Seelenheil im Jenseits zu gewährleisten. Heiligenreliquien stellten eine direkte Verbindung zum Himmel dar, und nichts war so machtvoll und kostbar wie diejenigen Reliquien, die im Zusammenhang mit den Leiden Christi selbst standen. Der Bau der Sainte-Chapelle, dieser beeindruckenden Kirche, die als Ausstellungsort für die Reliquiensammlung des Königs konzipiert war, kostete 40.000 Livres; allein für die Dornenkrone musste der König mehr als das Dreifache dieser Summe hinlegen. Sie war vermutlich der kostbarste Gegenstand in ganz Europa. Das kostbarste Geschenk, das der König machen konnte, war ein einzelner Dorn von dieser Krone.
    Ein solcher abgebrochener Dorn ist das Herzstück unseres Dornenreliquienschreins, eines 20 Zentimeter hohen Schaukästchens aus massivem, mit Edelsteinen besetztem Gold. In ihm entfaltet sich die Schreckensgeschichte vom Ende der Welt, dem Tag, an dem über uns wie über alle anderen Toten das letzte Urteil gesprochen werden wird. Es ist ein Schauspiel, in dem jeder Zuschauer eines Tages Mitspieler sein wird. Ein Drama in drei Akten. Ganz unten öffnen sich, während Engel in ihre Trompeten blasen, Gräber auf einem Hügel aus leuchtend grünem Email. Vier Gestalten – zwei männlich, zwei weiblich, aus weißem Email, noch in ihren Särgen – blicken auf und recken flehend die Hände in die Höhe. Hoch über ihnen, an der Spitze der Reliquie und umrahmt von goldenen Strahlen und Edelsteinen, sitzt Gott Vater zu Gericht. Das Hauptinteresse richtet sich auf den Mittelteil des Reliquienschreins.
    Für einen Christen im Mittelalter bestand die einzige Hoffnung, den Qualen der Hölle zu entkommen, in der erlösenden Kraft des

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