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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Byzantinischen Reich um 1400 die Vernichtung durch die osmanischen Türken drohte, wandte es sich der Vergangenheit zu, entdeckte dort ein Ereignis, das die einzigartige und göttliche Bestimmung des Reiches unterstrich, und erklärte es zum nationalen Mythos. Die Byzantiner verbreiteten ihren Mythos im öffentlichkeitswirksamsten Medium, das ihnen zur Verfügung stand: Sie riefen einen neuen kirchlichen Feiertag aus und gaben aus diesem Anlass eine Ikone in Auftrag.
    Für Byzanz war es noch nie so wichtig gewesen, göttlichen Beistand zu suchen. Das Reich, Nachfolger des Römischen Reiches und Streiter für das orthodoxe Christentum, war, nachdem es jahrhundertelang als Großmacht des Nahen Ostens geherrscht hatte, zu einem Schatten seiner früheren Größe verkommen. Um 1370 war es zu einem Kleinstaat zusammengeschrumpft, der kaum über die Stadtmauern von Konstantinopel, des heutigen Istanbul, hinausreichte. Alle Provinzen waren verloren, hauptsächlich erobert von den muslimischen Osmanen, die nun die Stadt von allen Seiten bedrängten; sogar die Existenz des orthodoxen Christentums selbst schien auf dem Spiel zu stehen.

    Auf Hilfe von außerhalb schien wenig Hoffnung zu bestehen. Zwei beherzte Versuche Westeuropas, Verstärkungstruppen zu schicken, waren schon auf dem Balkan kläglich gescheitert. Der Kaiser persönlich war verschiedentlich von Konstantinopel in die Königreiche des Westens – einmal sogar bis nach London – gereist, um Geld und Soldaten zu erbitten, aber ohne Erfolg. 1370 war klar, dass von irdischen Mächten keine Rettung zu erwarten war. Nur Gott konnte in einer so verzweifelten Lage noch helfen. So trostlos waren die Umstände, unter denen die Ikone des Triumphes der Orthodoxie gemalt wurde. Sie zeigt die Wirklichkeit des Byzantinischen Reiches nicht so, wie sie zu dieser Zeit aussah, sondern so, wie sie hätte sein müssen, damit Gott seine schützende Hand darüber halten würde.
    Das Wort «Ikone» kommt aus dem Griechischen und heißt einfach Bild, und dieses Bild ist etwa 40 Zentimeter hoch, es hat in etwa das gleiche Format wie der Bildschirm eines Laptops. Es ist auf eine Holztafel gemalt, die menschlichen Gestalten in Schwarz und Rot, der Hintergrund in leuchtendem Gold. In der Mitte oben sind zwei Engel zu sehen, die Ehrfurcht heischend ein Bild in die Höhe halten – die berühmteste aller orthodoxen Ikonen, eine, die besonders eng mit Konstantinopel verbunden ist. Als Hodegetria bekannt, zeigt sie die Gottesmutter mit dem Jesuskind auf dem Arm. Die Hodegetria wird von zahllosen Heiligen, vom Oberhaupt der orthodoxen Kirche – dem Patriarchen – und von der kaiserlichen Familie verehrt, die zusammen ganz Konstantinopel, das weltliche wie das geistliche, repräsentieren. Diese Ikone ist ein Bild von der Verwendung eines Bildes, und sie feiert die zentrale Rolle, die Ikonen in der orthodoxen Kirche spielen.
    Diarmaid MacCulloch, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Oxford, beschreibt die Funktion von Ikonen so:
    «Die Ikone ist wie eine Brille, die man aufsetzt, um den Himmel zu sehen. Durch dieses Bild wird man in den Himmel hineingezogen, weil orthodoxe Christen fest daran glauben, dass jeder Mensch dem dreieinigen Gott begegnen kann, dass wir fast gottgleich werden können. Es ist dieses außerordentliche, beängstigende Bekenntnis, vor dem die westliche Christenheit zurückschreckt.»
    Die Ikonenmalerei war weniger eine künstlerische als eine religiöse Tätigkeit, und sie war strengen Richtlinien unterworfen. Der Künstler selbst spielt keineRolle: Entscheidend sind Motivation und Technik. Dieser Aspekt der Ikonenmalerei fasziniert den US-amerikanischen Künstler Bill Viola, der aus einem mittelalterlichen Schriftstück zitiert:
    «Dies ist ein kurzer Text aus dem Mittelalter mit dem Titel
Richtlinien für den Ikonenmaler
.
    Erstens: Bevor du mit der Arbeit beginnst, bekreuzige dich, bete in Stille und vergib deinen Feinden. Zweitens: Arbeite sorgfältig an jedem kleinen Detail deiner Ikone, als würdest du vor dem Angesicht deines Herrn selbst arbeiten. Drittens: Bete während der Arbeit, damit … Neuntens: vergiss nie, welche Freude es ist, Ikonen in der Welt zu verbreiten, welche Freude, Ikonen zu malen, welche Freude, dem Heiligen Gelegenheit zu geben, durch seine Ikone zu leuchten, welche Freude, mit einem Heiligen vereint zu sein, dessen Gesicht du malst.»
    Was genau ist der Triumph der Orthodoxie, wie er in unserer Ikone dargestellt wird? Um diese

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