Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Blutes, das Christus vergossen hat. Daher ist in der Mitte des Schreins Christus zu sehen, der uns seine Wunden zeigt, und genau unter ihm befindet sich der lange, nadelspitze Dorn, der das heilige Blut zum Fließen gebracht hat.
Ista est una spinea corone Domini nostri Ihesu Christi
, steht auf dem Emailschild zu lesen: «Dies ist ein Dorn aus der Krone unseres Herrn Jesus Christus.»
Der katholische Bischof von Leeds, Reverend Arthur Roche, unterstreicht seine Bedeutung:
«Er ist zweifellos ein Fokus der Besinnung auf die tieferen Aspekte dessen, was der Preis des Leidens ist. Vor allem, wenn man sich vorstellt, dass dieser Dorn echt ist, dann bohrte er sich ja tatsächlich während des Leidens und der Kreuzigung Christi in dessen Kopf und verbindet gewissermaßen unser Leiden auf dieser Erde mit seinem Leiden für uns; diese Sicht gibt uns die Kraft zu ertragen, was wir im Heute durchmachen.»
Man kann die Wirkung, die dieses Objekt auf den vor ihm knienden Gläubigen haben muss, gar nicht hoch genug einschätzen. Das Blut, das dieser unwürdige Dorn zum Fließen gebracht hat, wird unsterbliche Seelen retten, und darum kann kein irdisches Ding zu kostbar für ihn sein, weder der Saphir, auf dem er ruht, noch der Bergkristall, der ihn schützt, oder die Rubine und Perlen, von denen er umrahmt ist. Dies ist eine Predigt aus Gold und Edelsteinen, eine Hilfe zu tieferer Versenkung und eine Quelle höchsten Trostes.
Es ist heute ausgeschlossen zu beweisen, dass sich dieser Dorn tatsächlich einmal ins Haupt Jesu gebohrt hat, aber wir können mit Sicherheit sagen, dass er von einer Kreuzdornart stammt, die in der Gegend um Jerusalem immer noch wächst. Die erste Erwähnung als Reliquie fand die Dornenkrone um 400 in Jerusalem. Später wurde sie vom Heiligen Land nach Konstantinopel, der christ lichen Hauptstadt des Byzantinischen Reiches, gebracht, wo man sie jahrhundertelang aufbewahrte und verehrte. Doch kurz nach 1200 geriet der Kaiser in Geldnot und verpfändete die Krone für einen astronomischen Betrag an die Venezianer. Darüber entsetzte sich sein Vetter, der Kreuzfahrerkönig Ludwig IX. von Frankreich, aber er witterte darin auch eine Chance. Er beglich die Schulden des Kaisers und kaufte damit die Re liquie los. So gelang es Ludwig als Kreuzfahrer zwar nicht, das Heilige Land, Schauplatz der Leiden Christi, zu erobern, aber immerhin brachte er die Dornenkrone in seinen Besitz. Und im Mittelalter war deren Kraft so gewaltig, dass Ludwig durch sie in den Augen der Menschen direkt mit Jesus Christus selbst in Verbindung stand. Zur Aufbewahrung seiner unvergleichlichen Reliquie baute Ludwig nicht nur einen Reliquienschrein, sondern gleich eine ganze Kirche. Er nannte sie seine heilige Kapelle – Sainte-Chapelle.
Die Buntglasfenster der Sainte-Chapelle lassen keinen Zweifel daran, dass die Ankunft der Dornenkrone Paris und das französische Königreich für immer verändern sollte. Ludwig, der mit seiner Kanonisierung 1297 zum Hl. Ludwig wurde, ist Seite an Seite mit König Salomon abgebildet: Die Sainte-Chapelle ist seine Kirche, und Paris ist zu Jerusalem geworden. Als die Krone in Paris eintraf, hieß es, der König von Frankreich werde sie als Pfand in seiner Obhut behalten bis zum Jüngsten Gericht, dem Tag, an dem Christus wiederkommen und sie an sich nehmen und Frankreich zum himmlischen Königreich werden würde. Als der Bau der Kapelle 1248 vollendet war, verkündete der Erzbischof bei ihrer Weihung: «So wie unser Herr Jesus Christus das Heilige Land als Schauplatz für die Mysterien der Erlösung wählte, hat er sich für unser Frankreich entschieden, wo es um die tiefere Verehrung für den Triumph seines Leidensweges geht.» Die Dornenkrone hat in der Religionspolitik weltweit lange Zeit eine beeindruckende Rolle gespielt – sie hat es Ludwig ermöglicht, für Frankreich eine einzigartige Stellung unter den Staaten Europas zu beanspruchen, und alle französischen Könige nach ihm wollten seinem Beispiel folgen.
Die Historikerin Schwester Benedicta Ward sieht darin mehr als nur ein religiöses Anliegen:
«Eine Reliquie zu besitzen, die speziell mit dem Kreuzweg Christi in Verbindung stand, war das Beste überhaupt. Aber es gab auch Reliquien der Heiligen, vor allem der Märtyrer unter ihnen. Ich glaube, sie wurden mit großem Neid beäugt, besonders die französischen Sammlungen. In England ging die Rivalität sehr weit: ‹Wir wollen eine bessere Reliquie haben, weil wir eine bessere Nation
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